Gesetzes- und Verfassungsbestimmungen
LB UR Bd 05 (1893) S. 251-268
Armengesetz
Sonntag, 2. Mai 1897
«Die Landesgemeinde des Kantons Uri, in Ausführung des Art. 9 der Kantonsverfassung, auf den Antrag des Landrathes, beschließt:
I. Allgemeine Bestimmungen.
Art. 1.
Den Gemeinden (Bürgergemeinden), in Ursern der Korporation (Verf. Art. 83 u. 89), liegt die Pflicht ob, unter Aufsicht und Mitwirkung des Staates ihre Bürger im Verarmungsfalle zu unterstützen.
Die Organisation der Armenbehörden in den Gemeinden ist durch die Art. 73, 76 lit. d und Art. 82 der Kantonsverfassung bestimmt.
Art. 2.
Auf die gesetzliche Armenunterstützung haben Anspruch:
1. Arme und zudem Mangels leiblicher oder geistiger Kräfte zum hinlänglichen Erwerbe ihres Unterhaltes nicht befähigte Personen;
2. dürftige Familien oder einzelne Personen, welche arbeits- oder erwerbsfähig sind, aber dennoch zeitweise an den unentbehrlichsten Bedürfnissen des Lebens Mangel leiden.
Art. 3.
Als unterstützungsberechtigt im Sinne des Art. 2 sind zu betrachten:
1. Vermögenslose Waisen oder sonst verlassene, hülflose Kinder, sowie solche, welche armen Eltern wegen sittlicher oder körperlicher Vernachlässigung abgenommen werden, so lange das Bedürfniß andauert;
2. vermögenslose Erwachsene, welche infolge angeborner Uebel, Gebrechen des Alters, unheilbarer Krankheiten oder Geistesstörung zu Arbeit und Verdienst unfähig sind;
3. Kranke, die um ihrer Krankheit willen vorübergehend hülfsbedürftig sind;
4. Familien, oder einzelne Personen, wenn sie infolge von Unglücksfällen oder unzureichenden Verdienstes wegen sich oder die Ihrigen zeitweise nicht zu erhalten im Stande sind, und durch freiwillige Wohlthätigkeit nicht ausreichend unterstützt werden.
Art. 4.
Die gesetzliche Unterstützung setzt bei denen, welchen sie verabreicht wird, die ihren eigenen Kräften mögliche Anstrengung zur Selbsterhaltung voraus und bezieht sich nur auf das Nothwendige.
Art. 5.
Die Armenunterstützung kann nicht auf dem Rechtswege geltend gemacht werden, vorbehältlich:
a. vertragliche, sowie durch Urtheil festgesetzte, oder auf besondern Stiftungen, Korporationen oder Vereinen haftende Verbindlichkeiten;
b. die Obliegenheiten der Meisterschaft oder eines der Haftpflicht unterstellten Unternehmers laut besondern Gesetzen.
Art. 6.
Armenunterstützungen, bestehen sie in Geld oder Naturalien, sowie Gegenstände, welche den Armen von den Armenpflegen zu einem bestimmten Gebrauche anvertraut werden, sind unpfändbar. (B.-G. über Schuldb. Art. 92 Ziff. 9.)
Art. 7
Wohnt ein Kantonsbürger, welcher infolge plötzlich entstandener Nothfälle der Unterstützung bedarf, nicht in seiner Heimatgemeinde, sondern in einer andern Gemeinde des Kantons, so soll die Armenpflege des Wohnortes demselben im Nothfalle die dringendste Unterstützung zukommen lassen. In allen Fällen ist sofort der Armenpflege der Heimathgemeinde Anzeige zu machen, welcher die Verfügung über den Heimtransport oder die weitere Unterstützung obliegt.
Die Heimatgemeinde ist verpflichtet, die im Nothfalle gemachten, unausweichlichen Auslagen der Wohngemeinde zu ersetzen.
Ueber die Ausweisung verarmter Familien und Personen, welche in einer andern Gemeinde heimatberechtigt sind, wird auf die einschlägigen Bestimmungen des Gesetzes über die Niederlassung der Kantonsbürger vom 4. April 1855 verwiesen.
Art. 8.
Die Verwandten in gerader auf- und absteigender Linie (Mutter und Großmutter einbegriffen) und die Geschwister sind, unter Androhung strenger korrektioneller Strafen, verpflichtet, sich gegenseitig nach Möglichkeit zu unterstützen.
Diese Unterstützungspflicht besteht ohne Rücksicht auf den Wohnort der Verwandten, auch wenn dieselben außer dem Kanton wohnen.
Art. 9.
Die Gemeinderäthe haben auf Antrag der Armenpflege die zu leistenden Beiträge der im Art. 8 genannten Verwandten, unter Würdigung der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der Pflichtigen, festzustellen, denselben und der Armenpflege anzuzeigen und dem Regierungsrathe zur Genehmigung vorzulegen.
In der Steuerliste ist anzugeben, ob die Beiträge in Geld oder in umgangsweiser Verpflegung bestehen.
Art. 10.
Die Armenpflegen sind befugt, solche Personen, welche für sich oder ihre Familie Unterstützung genossen, zur Rückerstattung, jedoch ohne Zinsberechnung, anzuhalten, sofern ihnen ein Erbe zufällt, oder ihre ökonomischen Verhältnisse später sich so gestalten, daß sie einen Ersatz zu leisten im Stande sind, oder wenn sie Vermögen hinterlassen. Diese Ansprüche auf Rückerstattung sind öffentlich rechtlicher Natur und unterliegen der Verjährung nicht.
Den steuerpflichtigen Verwandten steht für ihre gesetzlich geleisteten Beiträge die gleiche Befugniß zu.
Art. 11.
Von der Rückerstattungspflicht sind ausgenommen:
a) Unterstützungen aus Spendgeldern oder besondern Stiftungen, welche die Rückerstattungspflicht nicht bedingen.
b) Kinder, welche bis zum erfüllten 16. Altersjahr unterstützt wurden. Für diese haften nur die Eltern oder deren Hinterlassenschaft.
e) Kleinere Erbfälle, die zum Unterhalte der betreffenden Familien oder Personen unbedingt nothwendig sind.
II. Verpflegungs- und Unkerstützungsweise.
Art. 12.
Für die Armen soll gesorgt werden, daß
1. die Kinder eine christliche Erziehung genießen, zu fleißigem Schulbesuch und religiösem Unterrichte angehalten, neben Schule und Unterricht an eine ihren Kräften und Fähigkeiten angemessene Beschäftigung gewöhnt und zu einer Berufsthätigkeit vorbereitet werden, sowie auch in Hinsicht auf Nahrung, Kleidung und übrige Pflege das Nothwendige erhalten;
2. die über dem Kindesalter stehenden Personen, welche wegen körperlicher oder geistiger Gebrechen den Lebensunterhalt nicht selbstständig verdienen können, so untergebracht werden, daß sie die ihnen allfällig noch innewohnende Arbeitskraft zu ihrem Unterhalte verwenden können; auch soll über sie Aufsicht geübt und im Uebrigen ihnen Schutz und Pflege gewährt werden;
3. Kindern und Erwachsenen in Krankheitsfällen zur rechten Zeit ärztliche Hilfe, die entsprechende Pflege und was zur Herstellung der Gesundheit sonst nöthig ist, zu Theil wird;
4. an dürftige Familien oder einzelne Personen das zur Krankenpflege, Nahrung, Kleidung und Wohnung Nöthigste verabreicht wird.
Art. 13.
Die Versorgung der Armen geschieht:
1. durch Verkostgeldung bei rechtschaffenen, arbeitsamen und verpflegungsfähigen Leuten;
2. durch gemeinsame Unterhaltung und Verpflegung in einem Armenhaus;
3. durch Unterbringung Einzelner in der kantonalen Erziehungsanstalt, dem Kantonsspital oder andern geeigneten staatlichen, gemeinnützigen oder privaten Anstalten in oder außer dem Kanton;
4. durch Unterstützung in der Familie, Bezahlung von Arzt- und Verpflegungskosten etc.
Art. 14.
Die Armenpflege soll für jeden Fall die je nach Umständen zweckmäßigste Unterstützungsweise (durch Lebensmittel, Kleider, Miethzinse etc.) ausmitteln, wöchentliche oder monatliche Geldbeiträge aber nur Solchen zukommen lassen, bei welchen kein Mißbrauch derselben zu befürchten ist.
Art. 15.
Die Unterstützung ist möglichst an die Selbstthätigkeit des Armen anzuknüpfen. Finden noch einigermaßen arbeitsfähige Unterstützte von sich aus keine Beschäftigung, so wird die Armenpflege nach Möglichkeit ihnen Arbeit verschaffen.
Art. 16.
Rechtschaffenen Eltern bezw. Vätern oder Müttern, welche sich und ihre Kinder wegen Armuth nicht erhalten können, dürfen deßwegen ohne ihre Einwilligung die Kinder nicht weggenommen werden. Bei ungebührlichen Anforderungen in Bezug auf das Kostgeld entscheidet der Regierungsrath.
Dagegen sind solchen Eltern, die ungeachtet erfolgter Mahnung ihren Kindern die erforderliche körperliche Pflege nicht angedeihen lassen, die nöthige Nahrung vorenthalten, sie ungebührlich behandeln oder in sittlicher oder erzieherischer Hinsicht vernachlässigen, dieselben wegzunehmen.
Art. 17.
Unterstützungsbedürftige Bürger, welche in einem andern Kanton ihren Wohnsitz haben, sind nur dann an ihrem Wohnorte zu unterstützen, wenn die Unterstützungsbedürftigkeit amtlich dargethan und Gewähr vorhanden oder geboten ist, daß die Unterstützungsbeiträge nach Weisung der Armenpflege verwendet werden.
Wo armenpflegerische, erzieherische oder finanzielle Rücksichten den Heimtransport einer Person oder Familie als angezeigt erscheinen lassen, kann die Verabreichung einer Unterstützung nach auswärts verweigert werden.
Im Rekursfalle entscheidet der Regierungsrath nach freiem Ermessen.
Art. 18.
Von den Unterstützten darf gefordert werden, daß sie nach Kräften und Befähigung arbeiten, ihren Verdienst sowohl als die Unterstützungsbeiträge, in Naturalien oder Geld, nach Anweisung der Armenpflege verwenden, für sich und die Ihrigen sparsam und vorsichtig gebrauchen und sich den Anordnungen der Behörden unterziehen.
Art. 19.
Korporationsgefälle von Armengenössigen, welche bleibend unterstützt oder in das Armenhaus ausgenommen werden, können von der Armenpflege zur Hand genommen, müssen aber im Nutzen der Genössigen verwendet werden.
Art. 20.
Den Armenpflegen wird empfohlen, sich in Bezug auf einzelne Theile der Armenbesorgung, wie Kindererziehung, Krankenpflege, Bekleidung etc. mit hiefür besonders geeigneten Personen oder wohlthätigen Vereinen in Verbindung zu setzen.
Die Bildung freiwilliger, wohlthätiger Vereine für einzelne Zweige des Armenwesens ist möglichst anzustreben.
Art. 21.
Die Armenpflegen sollen an befähigte arme und unterstützungsbedürftige Knaben oder Mädchen zur Erlernung eines Berufes oder Handwerkes Unterstützungen gewähren, soweit es der finanzielle Stand der Armenpflege gestattet, ohne die Armenverpflegung zu verkürzen. Für solche Unterstützungen finden Art. 10 und 11 ebenfalls Anwendung.
Der Fideikommißverwaltung A-Pro wird empfohlen, die daherigen Bestrebungen der Gemeindearmenpflegen, vorab der minderbemittelten, nach Kräften zu unterstützen.
Die Verabfolgung solcher Unterstützungen muß in allen Fällen an den Abschluß und die Einhaltung schriftlicher Lehrverträge geknüpft werden.
III. Unterstützung von Nichtkantonsbürgern.
Art. 22.
Nicht kantonsangehörige Arme, welche dauernd der öffentlichen Wohlthätigkeit zur Last fallen, können in ihre Heimatgemeinde gewiesen werden, sofern diese bezw. der Heimatkanton trotz amtlicher Aufforderung keine angemessene Unterstützung leistet. (Bundesverfassung Art. 43, Absatz 3.)
Art. 23.
D er Kostenersatz für Verpflegung ertränkter und die Beerdigung verstorbener armer Angehöriger anderer Kantone regelt sich nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes vom 22. Juni 1875.
Art. 24.
In allen Fällen, wenn ein unbemittelter Angehöriger eines andern Kantons oder des Auslandes erkrankt und dessen Rückkehr in den Heimatkanton bezw. Heimatort ohne Nachtheil für seine oder Anderer Gesundheit nicht geschehen kann, hat die Armenpflege derjenigen Gemeinde, in welcher Jener niedergelassen oder Aufenthalter ist, dafür zu sorgen, daß ihm die erforderliche Pflege und ärztliche Besorgung und im Sterbefalle eine schickliche Beerdigung zu Theil werde.
Art. 25.
Die Armenpflegen sind gehalten:
a) vom Eintreten eines derartigen Verpflegungsfalles, unter möglichst genauer Angabe von Namen, Stand oder Beruf, Heimat und letztem Wohnorte der zu verpflegenden oder verstorbenen Person, dem Regierungsrathe innert 8 Tagen Anzeige zu machen.
b) Die bezügliche Kostenrechnung innert Monatsfrist nach dem Aufhören der Verpflegung oder nach dem eingetretenen Todesfall im Original dem Regierungsrathe einzureichen.
Art. 26.
Der Regierungsrath wird die geeigneten Maßnahmen treffen, damit der Ersatz der erwachsenen Kosten erhältlich gemacht wird, wenn dieser vom Hülfsbedürftigen selbst, oder von andern privatrechtlich Verpflichteten geleistet werden kann, oder wenn mit deren Heimatstaaten Staatsverträge bestehen, im Sinne gegenseitiger Vergütung der Verpflegungs- und Beerdigungskosten.
Art. 27.
Ist von diesen Seiten eine Bezahlung der Kosten nicht erhältlich, so hat die Armenpflege derjenigen Gemeinde dieselben zu tragen, in welcher der Verpflegte oder Verstorbene niedergelassen oder Aufenthalter war, oder auch dann, wenn derselbe ohne Erfüllung der gesetzlichen Vorschriften über Niederlassung und Schriftenabgabe geduldet worden wäre.
Für Durchreisende aber leistet der Staat vollen Ersatz, wenn in den betreffenden Gemeinden nicht speziell zu diesem Zwecke Spitäler mit ausreichenden Mitteln oder besondere Fonds bestehen.
IV. Armenverwaltung in den Gemeinden.
Art. 28.
Die Unterstützungsgesuche sind beim Präsidenten der Armenpflege anzubringen, der sie derselben beförderlich vorlegen muß, mit einem genauen und vollständigen Bericht über Alter, ökonomische Lage, Beruf, Arbeitsfähigkeit, Gesundheitszustand und sittliches Verhalten des Betreffenden, und wo es Haushaltungen betrifft, über die Zahl, Alter, Arbeitsfähigkeit und Verdienst ihrer Glieder.
Die Armenpflege entscheidet nach sorgfältiger Prüfung über Abweisung oder Gewährung des Gesuches und in letzterem Falle auch über die Art und Weise, sowie über das Maß der Unterstützung.
Ueber vorläufige Verfügungen, wozu nur dringende Fälle den Präsidenten der Armenpflege berechtigen, hat derselbe in nächster Sitzung Bericht zu erstatten.
Art. 29.
Gegen Beschlüsse und Verfügungen der Armenpflegen und gegen Steuerlisten (Art. 9) kann innert 14 Tagen, von der Mittheilung an gerechnet, beim Regierungsrathe Rekurs erhoben werden.
Art. 30.
Die Mittel der Armenunterstützuug werden bestritten:
1. aus den Erträgnissen der verschiedenen Armengüter und Kapitalien;
2. aus dem Ertrag von Stiftungen;
3. aus Beitragen des Staates (Art. 40, 42 und 42);
4. aus den Erträgnissen, welche laut betreffenden Gesetzen und Verordnungen den Armenpflegen zufallen (Erbrecht, Erbschaftssteuerantheil und Tanzabgabe);
5. aus den Beiträgen von Verwandten (Art. 8 );
6. aus den Rückerstattungen von Unterstützungen (Art. 10 );
7. aus allfälligen Opfern, Kollekten und Geschenken;
8. aus allfälligen Legaten und Vermächtnissen, unter Vorbehalt der Bestimmungen des Gebers und Testators;
9. aus Leistungen von Korporationen und Gemeinden (Hüttenrecht, Allmendvergabung etc.);
10. aus dem Ertrage direkter Armensteuern (Verfassung Art. 38), unter Festhaltung der Steuerpflicht aller Einwohner;
11. aus den Gebühren für die Erwerbung des Armebürgerrechtes.
Art. 31.
Die bestehenden Armengüter dienen mit ihren Zins- und anderen Erträgnissen vorab zur Bestreitung der jährlichen Ausgaben für das Armenwesen und dürfen weder ihrem Zwecke entfremdet, noch in ihrem Bestände geschmälert werden (Verfassung Art. 78).
Vorbehalten bleiben besondere Schenkungen und Fonds, welche eine separate Verwendung erhalten müssen.
Art. 32.
Der Armenpflege steht die Aufsicht zu über das Armenhaus und den Spital ihrer Gemeinde, sie bestimmt die Hausordnung und sorgt für eine gute, dem Zwecke der Anstalt entsprechende Leitung.
Die Armenhäuser sollen in ihrer Einrichtung den besondern Zwecken der Unterstützung entsprechen. Insbesondere ist auf reinliche, gesunde Räumlichkeiten, auf Sönderung der Jugend von Erwachsenen, auf Trennung der Geschlechter, auf angemessene Beschäftigung und Beaufsichtigung Aller, sowie auf gesunde und entsprechende Ernährung der Anstaltsgenossen Bedacht zu nehmen.
Für Errichtung, Erbauung und Erweiterung neuer Armenhäuser sind die bezüglichen Pläne, nebst Kostenvoranschlag dem Regierungsrathe zur Genehmigung vorzulegen.
Art. 33.
Ueber die von den Armenpflegen unterstützten Personen und Familien ist durch erstere eine Kontrolle nach amtlichem Formulare zu führen.
Art. 34.
Den Armenpflegen liegt die Pflicht ob, die Behandlung sowohl als auch das Verhalten der Unterstützten, deren Arbeitsamkeit und die Verwendung der Gaben zu beaufsichtigen.
Die Armenpflege wird die spezielle Aussicht den einzelnen Mitgliedern oder Vormündern übertragen.
Art. 35.
Personen, welche die ihnen zur Obsorge und Pflege übergebenen Armen nicht nach Vorschrift des Gesetzes (Art. 12) und nach Anordnung der Armenbehörden behandeln, kann ein entsprechender Abzug am Kostgeld gemacht werden und sind ihnen die Pfleglinge wegzunehmen und anderswo zu versorgen.
In schweren Fällen hat überdies Ueberweisung an die Staatsanwaltschaft zu erfolgen.
Abmachungen, welche dieser Gesetzesbestimmung zuwiderlaufen, sind ungültig.
Verträge für Aufnahme und Verpflegung von Unterstützten sollen in der Regel schriftlich und nur für ein Jahr abgeschlossen werden. Allfällige Streitigkeiten über Wegnahme von Pfleglingen oder Abzug am Kostgelde entscheidet endgültig der Regierungsrath.
Art. 36.
Kinder, welche von der Armenpflege verpflegt worden, sind nach dem Aufhören der Unterstützung den Bestimmungen des Vormundschaftsgesetzes unterworfen.
Den Waisenämtern (Waisenvögten) und den Vögten wird zur Pflicht gemacht, für ein gutes Fortkommen ihrer Pflegbefohlenen bis zu deren Volljährigkeit Sorge zu tragen oder dazu behülflich zu sein, dieselben einem ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Berufe zuzuführen, ihr sittliches und religiöses Betragen gewissenhaft zu überwachen und sie vor Verirrungen nach Möglichkeit zu bewahren.
Sittlich gefährdete, verdorbene oder verwahrloste Kinder sind zur Versorgung bei einer sittlich-religiösen Familie oder in einer Besserungsanstalt unterzubringen.
Art. 37.
Zum Zwecke der Benützung des Armenrechtes sind die Armenpflegen befugt, an arme oder dürftige Personen Armuths¬ oder Dürftigkeitszeugnisse auszustellen.
Der Erwerb eines solchen Zeugnisses qualifiziert den Betreffenden nicht als almosengenössig und darf dasselbe nicht zur Ausübung des Bettels mißbraucht werden.
V. Oberaufsicht und Staatsbeiträge.
Art. 38.
Der Regierungsrath führt gemäß Art. 62 lit. d der Kantonsverfassung die Aufsicht über das Armenwesen, entscheidet in sachbezüglichen Rekursfällen und Beschwerden gegen Beschlüsse und Verfügungen der Armenpflegen und ertheilt denselben verbindliche Weisungen.
Art. 39.
Der Regierungsrath nimmt alljährlich Bericht entgegen über die Armenrechnungen und Stiftungen zu Armenzwecken, über den Vermögensbestand und die verabfolgten Unterstützungen und erläßt daherige Vorschriften. Er ordnet zeitweise eine Inspektion an über das Rechnungswesen, die zu Armenzwecken bestehenden Anstalten, sowie über die Versorgung der Armen und Waisen.
Art. 40.
Der Staat leistet jährlich an die Armenpflegen des Kantons einen Beitrag von mindestens Fr. 12,000 aus der Staatskassa, welche im Verhältniß zur Bürgerzahl auf die Gemeinden zu vertheilen sind (Verfassung Art. 9). Der Regierungsrath wird zeitweise die Vertheilungsskala revidiren.
Art. 41.
Es ist auf Errichtung einer Zwangsarbeitsanstalt für arbeitsscheue und liederliche Personen, sowie eines Asyls für unheilbare Geisteskranke, oder auf den Anschluß an solche Anstalten eines andern Kantons Bedacht zu nehmen.
Der Landrath ist befugt, für diese Zwecke alljährlich bestimmte Beträge, nach Maßgabe der verfügbaren finanziellen Mittel, in den Voranschlag einzustellen. In diesen Anstalten ist auf möglichst billige Verpflegungsgebühren Rücksicht zu nehmen.
An die effektiven Auslagen der Armenpflegen für Unterbringung von arbeitsscheuen und liederlichen Personen in einer Zwangsarbeitsanstalt leistet der Kanton einen Beitrag von 50 %.
Art. 42.
An die Errichtung, Erbauung oder Erweiterung von Armenhäusern leistet der Staat einen einmaligen Beitrag von F r. 600-2500, sofern die wirklichen Kosten auf Fr. 4000 sich belaufen.
VI. Disziplinar- und armenpolizeiliche Vorschriften.
Art. 43.
Mißbrauch der Unterstützung, Arbeitsscheu, Veräußerung: oder das Versetzen anvertrauter Sachen, sowie Widersetzlichkeit und ungebührendes Benehmen gegen Armenbehörden und Vorgesetzte kann durch entsprechende Verminderung oder Entzug der Unterstützung auf gewisse Zeit bestraft werden, soweit dies mit Rücksicht auf den körperlichen oder geistigen Zustand des Fehlbaren und die Bedürfnisse schuldloser Familienglieder zulässig ist.
Wenn die Entziehung der Unterstützung erfolglos oder unzulässig ist, so kann die Armenpflege fehlbare Arme mit 24 Stunden, im Wiederholungsfalle mit 48 Stunden Polizeiarrest bestrafen.
Bei erschwerenden Umständen oder in weitem Fällen ist entweder der Polizeidirektion Anzeige zu machen, welche die geeigneten Verfügungen treffen wird, oder aber die Ueberweisung des Fehlbaren an die Staatsanwaltschaft zu verfügen.
Art. 44.
Bei gleicher Strafe ist denjenigen Armen, welche für sich oder ihre Kinder von der Armenpflege dauernd unterstützt werden, der Wirthshausbesuch und das Spielen um Geld oder Geldeswerth verboten (Art. 18 und 24 litt. f. des Wirthschaftsgesetzes).
Die Armenpflege soll den Wirthen ihrer Gemeinde zum Verhalt die Namen solcher Unterstützten mittheilen.
Art. 45.
Auf diejenigen, welche durch Arbeitsscheue, Trunksucht, Liederlichkeit, Leichtsinn und Verschwendung sich oder ihre Familie der Gefahr künftigen Nothstandes aussetzen, sollen die Armenpflegen und Waisenämter ein wachsames Auge haben, sie zu rechter Zeit ernstlich ermahnen und, wo dies nicht hilft, bei dem Gemeinderathe auf Bevogtigung anfragen.
Trunksüchtigen kann überdies auf Antrag des Gemeinderathes vom Regierungsrathe der Wirthshausbesuch, sowie der Bezug jeder Art geistiger Getränke verboten werden.
Art. 46.
Die Armenpflegen können mit Genehmigung des Regierungsrathes Personen, welche bei anerkannter Arbeitsfähigkeit sich dauernd dem Müssiggang, Bettel oder einem liederlichen und ausschweifenden Lebenswandel ergeben oder ihrer Familie gegenüber der Pflichtvergessenheit sich schuldig machen und durch ihre Handlungsweise der Behörde ihres Heimatortes entweder bereits zur Last fielen oder in Zukunft zur Last zu fallen drohen, in einer Zwangsarbeitsanstalt unterbringen.
Art. 47.
Eltern und Pflegeeltern, welche ihre Pflichten hinsichtlich der Erziehung, Versorgung, Behandlung und Verpflegung der Kinder, letztere mit Rücksicht auf ihre Vermögens- und Erwerbsverhältnisse, nicht erfüllen oder sich denselben durch böswilliges Verlassen entziehen, sowie Eltern, welche auf die Erziehung ihrer durch die Armenbehörde in Anstalten oder bei Privaten untergebrachten Kinder durch Aufreizung zum Ungehorsam usw. störend einwirken, sind der Staatsanwaltschaft zu verzeigen.
Art. 48.
Durch Naturereignisse Geschädigten und von Unglücksfällen Betroffenen ist jedes Gabensammeln ohne Bewilligung des Regierungsrathes untersagt. Auch für Gabensammlungen zu außerkantonalen Zwecken muß die Bewilligung des Regierungsrathes eingeholt und hernach dieselbe bei der Sammlung vorgewiesen werden.
Ebenso ist Behörden und Beamten die Ausstellung von allgemeinen schriftlichen Empfehlungen zur Unterstützung (sogenannte Bettelbriefe) verboten.
Zuwiderhandlungen sollen von der Gerichtskommission mit Fr. 5 bis 20 gebüßt werden. Die betreffenden Schriftstücke sind von der Polizei zu konfisziren.
Art. 49.
Aller Haus- und Straßenbettel, in welcher Form und unter welchem Vorwande derselbe betrieben werde, ist strengstens verboten.
Für Kinder und Pflegebefohlene, welche sich damit abgeben oder dabei betroffen werden, sind Eltern und Pflegeltern verantwortlich und strafbar.
Art. 50.
Kantonsangehörige, welche auf dem Haus- oder Straßenbettel betroffen werden, sind zu verwarnen, Kinder aber deren Eltern und Pflegeltern zuzuführen. Angehörige anderer Gemeinden sind an ihren Wohnort zu weisen.
In Wiederholungsfällen sollen Fehlbare in der betreffenden Gemeinde vom Gemeindepräsidenten mit 24 bis 48 Stunden Polizeiarrest bestraft werden. Die daherigen Kosten trägt die Gemeinde.
Bei fortgesetztem Bettel, oder bei erschwerenden Umständen, sind die Schuldigen, bezw. deren Eltern oder Pflegeltern der Staatsanwaltschaft anzuzeigen.
Art. 51.
Die Gemeindepräsidenten können gegen ihnen bekannte Personen, welche dem Haus- oder Straßenbettel obliegen, oder auch solche, welche ohne Bewilligung durch Feilbieten von Gegenständen irgend welcher Art oder durch Umhertragen von Schaugegenständen Fremde oder Einheimische belästigen, die nach Anleitung von Art. 80 vorgesehenen Maßnahmen treffen, eventuell auch eine Geldbuße von 1-10 Fr. ausfällen oder die Weisung der Polizeidirektion einholen. Die Buße fällt der Gemeinde zu.
VII. Schlussbestimmungen.
Art. 52.
Behufs Behandlung armer oder dürftiger Kranker ist für eine dem Bedürfnisse entsprechende Zahl von Armenärzten zu sorgen.
Hierüber, sowie über die Betheiligung des Staates und der Gemeinden an den bezüglichen Kosten hat der Landrath durch eine Verordnung das Nähere zu bestimmen.
Art. 53.
Die Armenpflegen haben, nöthigenfalls unter Inanspruchnahme der Polizeiorgane, für eine menschenwürdige Aufnahme (Fremdenspital) und möglichst schadlose Ableitung aller mittellosen Durchreisenden, die um Hülfe nachsuchen, zu sorgen. Der Haus¬ und Straßenbettel ist denselben untersagt.
Art. 54.
In Bezug auf die Unterstützung außerehelicher Armer bleibt der Bezirksgemeindebeschluß vom 11. Mai 1884 maßgebend.
Art. Landbuch 108, litt . d und e bleiben zu Gunsten der Armenpflegen in Kraft.
Art. 55.
Dieses Gesetz tritt auf Neujahr 1898 in Kraft. Durch dasselbe treten alle bisherigen Gesetzesbestimmungen über das Armenwesen, welche mit diesem Gesetze im Widerspruch stehen, außer Wirksamkeit.»
Landesgemeinde-Beschluss vom 2. Mai 1897, LB UR Bd 05 (1893) S. 251-268.
-------------------------
|
|
JUSTIZWESEN
GERICHTSWESEN
BUNDESGESETZGEBUNG
KANTONALE GESETZGEBUNG
STRAFRECHT
STRAFTATEN
GRUNDRECHTE
|