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Der mysteriöse Tod des Richard Depoorters auf der Abfahrt vom Sustenpass

Die Tour de Suisse wurde im Jahre 1948 vom 12. bis 19. Juni ausgetragen. Nach dem Ruhetag in Thun folgte am Mittwoch, 16. Juni, die Alpenetappe über den Sustenpass nach Altdorf. Das Renngeschehen wurde dabei überschattet vom Todessturz des Belgiers Richard Depoorter im Tunnel im Fedenwald oberhalb von Wassen. Die Urner Untersuchungsbehörden kamen voreilig zum Schluss, dass der Rennfahrer an seinen Sturzverletzungen gestorben sei. In einem späteren Gerichtsverfahren in Belgien bestätigte sich jedoch der Verdacht, dass der 33jährige Richard Depoorter nach seinem Sturz im dunklen Tunnel von einem Begleitfahrzeug überfahren worden war.

Mittwoch, 16. Juni 1948, Sustenpasshöhe, Tour de Suisse, 4. Etappe! Es naht ein Gewitter! Die Strasse bleibt jedoch trocken! Als erster passiert der kleine Franzose Jean Robic den Bergpreis. Mit einem Rückstand von 14 Sekunden erscheint Ferdi Kübler im goldenen Trikot. Es folgen der Belgier Stan Ockers mit 2:57 und die Nummer 6, der Belgier Richard Depoorter im schwarz-orange-farbenen Mondia-Trikot, mit 3:34 Rückstand. Nach einer halben Minute passieren in Sekundenabständen der Franzose Robert Bonnaventure, die Schweizer Hans Sommer und Hugo Koblet sowie der Luxemburger Jean Goldschmit. Abgeschlagen folgt der Italiener Giulio Bresci, das heisst Richard Depoorter winkt der zweite Gesamtrang. Kurz nach dem Pass fährt Depoorter allerdings in eine Schneemauer, muss absteigen und den Lenker richten. Er wird während diesem Zwischenfall jedoch von keinem Konkurrenten überholt! Die Fahrer rasen nun im 70-km/h-Tempo auf der neuen, asphaltierten Strasse den Susten Richtung Wassen hinunter. Mit diesem unverminderten Tempo fährt Richard Depoorter um 17.50 Uhr in den Tunnel im Fedenwald ein.

Der nachfolgende Hugo Koblet kennt die Sustenstrasse, bremst vor der Einfahrt stark ab und macht den nachfolgenden Jean Goldschmit auf die Rechtskurve im Tunnel aufmerksam. Da sieht Koblet im Halbdunkel einen Körper und ein Velo am Boden liegen. Er muss sich konzentrieren, um auf der rechten Fahrbahn passieren zu können. Der Luxemburger nimmt ein schwarz-orange-farbenes Leibchen gewahr: Beim Gestürzten muss es sich um den Belgier Richard Depoorter handeln! Da die beiden nicht an einen ernstlichen Unfall denken, fahren sie ohne anzuhalten weiter.

Die Polizei findet weder Velo noch Zeugen vor

Den Spitzenfahrern folgen Begleitautos. Rennkommissär Henri Höhnes sieht den verunfallten Fahrer am Boden liegen und lässt sein Fahrzeug am Tunnelausgang anhalten. Vor ihm passierte ein gelber Ford Mercury mit belgischen Kontrollschildern. Der Mannschaftswagen der französischen Mannschaft "La Perle" mit Directeur sportif Francis Pélissier hält ebenfalls vor dem Tunnel an. Depoorter wird von den Insassen des belgischen Wagens bereits aus dem Tunnel getragen und auf einen Kieshaufen gelegt. Pélissier nimmt sich dem noch einige Male tief aufatmenden Depoorter an, öffnet ihm seine Kleider, holt Kölnisch-Wasser, um dem Schwerverletzten damit ein wenig Erfrischung zu bringen. Als der Franzose dem belgischen Rennfahrer die Augen öffnet, sieht er, dass diese schon gebrochen sind. Richard Depoorter ist tot! In Altdorf unten gewinnt Jean Robic die Etappe vor den Schweizern Ferdi Kübler und Hugo Koblet.

Beim unteren Leggisteintunnel ist auch der Wassner Arzt Davide Staffieri als Zuschauer an der Strecke anwesend. Da vorbeifahrende Fahrer und Begleitpersonen nach einem Arzt rufen, fährt er zum Unfallort. Dort konstatiert er den Tod des Rennfahrers durch eine Schädelzertrümmerung sowie eine geschlossene Oberschenkelfraktur. Tour-Arzt Hector Urio hält am Unfallort ebenfalls kurz an, untersucht die Pupillen, den Kopf und den Oberschenkel des Verunfallten, konstatiert den Tod und fährt weiter. Dem Wassner Arzt hatte er sich nicht einmal vorgestellt. Später gibt der Tour-Arzt zu Protokoll, dass es seine Vorschrift war, "vom Moment, wo es sich um einen Todesfall handelte, nichts anderes zu tun als, die örtlich zuständigen Behörden zu benachrichtigen."

Nach einer halben Stunde trifft der im Dorf Wassen Ordnungsdienst leistende Polizeiwachtmeister Bissig am Unfallort ein. Er wird begleitet vom Wassner Gemeindepräsidenten Gerig und Gemeindeschreiber Walker. Bei ihrer Ankunft am Unfallort sind nur noch Dr. Staffieri und einige Zuschauer, jedoch keine Zeugen mehr anwesend. Auch nicht mehr vorzufinden ist Depoorters Rennvelo, welches von einem Begleitfahrzeug bereits auf den Polizeiposten Altdorf überbracht wurde. Nach der Leichenschau durch Gemeindepräsident Gerig und Gemeindeschreiber Walker wird der Tote in die Totenkapelle von Wassen überbracht.

In Altdorf brodelt die Gerüchteküche

In Altdorf macht sich schnell das Gerücht breit, dass der Unfall durch eine Lockerung am Lenker des Velos "Mondia-Superchampion" verursacht worden sei. Eine bei der Altdorfer Velohandlung Josef Gisler-Büchel veranlasste amtliche Untersuchung stellt jedoch fest, dass sich die Lenkerbefestigung auch nach dem Unfall in einem einwandfreien mechanischen Zustand befand.

Am Abend erscheint der Directeur sportif der Mannschaft "La Perle", Francis Pélissier, auf dem Polizeiposten Altdorf und deponiert folgende Aussage: "Ich vermute, dass Depoorter vom belgischen Auto, welches den Rennfahrern folgte, überfahren worden ist. Vom Unfall selbst habe ich leider nichts gesehen, aber nach allem was ich bis jetzt festgestellt habe, kommt in dieser Sache nur ein Überfahren durch einen nachfolgenden Begleitwagen in Frage. Ich stelle diese Vermutung auf, weil ich als ehemaliger Rennfahrer weiss, dass man nicht nur durch Touchieren eines Gegenstandes, sei es eine Mauer, eine Felswand, oder dergleichen so zu Fall kommen kann, dass man tödlich verletzt wird. Daher kommt also nur ein Überfahren in Frage!" Der einvernehmende Polizist macht den Franzosen darauf aufmerksam, dass es für die Polizei wichtiger sei, sich auf Zeugenaussagen und nicht auf blosse Vermutungen zu stützen. Pélissier stösst mit seinen Aussagen gemäss Polizeiprotokoll bei SRB-Präsident Carl Senn, Rennkommissär Henri Höhnes und Tourarzt Hector Urio "auf eine starke Gegenreaktion". In der Folge melden sich auf dem Polizeiposten auch der Fahrer und ein Insasse des mit vier Personen besetzt gewesenen gelben Ford Mercury. Die beiden sagen aus, dass sie im Tunnel auf der linken Seite einen Fahrer hätten liegen sehen, den Wagen vor dem Tunnel angehalten und den Fahrer darauf aus dem Tunnel getragen hätten.

Die belgische Presse will genaue Informationen

Die polizeiliche Spurensicherung ergibt, dass Depoorter in der asphaltierten, am Rande gesplitteten Rechtskurve mit der linken Tunnelwand kollidierte, durch den Aufprall auf die Strasse zurückgeworfen wurde und zirka 10 Meter unterhalb der Kollisionsstelle mit dem Velo zu liegen kam. Nebst der Tatsache, dass von der Polizei viele wichtige Zeugen nicht einvernommen wurden, wird es vor allem unterlassen, eine Autopsie der Leiche anzuordnen!

Am 18. Juni wird der Leichnam mit einem Auto in Wassen abgeholt und nach Belgien überführt. Am gleichen Tag erlässt das Polizeikommando Uri eine "amtliche Bestätigung", wonach sich "einwandfrei" ergeben hat, "dass die Unfallursache in 1. Linie auf Unkenntnis der Strasse seitens des Rennfahrers und 2. auf übersetzte Geschwindigkeit, aber keinesfalls auf Defekt oder technische Mängel am Fahrrad zurückzuführen ist." Der Fall Depoorter kann jedoch noch lange nicht ad acta gelegt werden.

In der internationalen Sportpresse hält sich nämlich hartnäckig das Gerücht, dass Depoorter von dem belgischen Begleitwagen nach dem Sturz überfahren worden sei. Die in Brüssel erscheinende Zeitung "Le Peuple" will vom Polizeikommando Uri die exakte Version des Unfalles und das genaue Resultat der Untersuchung erfahren. Mit dem 25. Juni ist das Antwortschreiben datiert, worin das Polizeikommando die Unfallursache nochmals bestätigt und festhält: "Die Ansicht, dass der Verunfallte von einem Auto überfahren worden ist, hat sich als grundsätzlich falsch erwiesen. Die ärztliche Untersuchung ergab, dass der Verunfallte die Verletzungen durch die Kollision mit der Felswand und durch den Sturz auf die Strasse erlitten hat, aber auf keinen Fall durch ein fahrendes Auto." Einen Tag später hält Davide Staffieri im Ärztezeugnis schriftlich fest: "Die Todverursachende Verwundung ist sicher die vom Schädel gewesen." Die Einbuchtung der Schädelfaktur schliesse "die Möglichkeit einer Quetschung nach Überfahren aus". Vor allem stellte der Arzt keine Rippenfraktur fest. Staffieri sollte sich in allen Punkten täuschen!

Trauerzug mit 3000 Personen

Inzwischen wird Richard Depoorter am 24. Juni in Ichtegem, seinem ehemaligen Wohnort, bestattet. An dem Trauerzug nehmen 3000 Personen teil, unter ihnen alle belgischen Berufsfahrer und SRB-Präsident Carl Senn. Der spätere Kronzeuge, der Masseur Guillaume Driessens, hilft den Sarg in die Kirche zu tragen.

In der belgischen Presse bleibt der Tod Depoorters ein aktuelles Thema, vor allem das Gerücht, dass Depoorter überfahren worden sei, hält sich weiterhin aufrecht. Anfangs August nimmt der Advokat der Familie Depoorter, Fernand Van Hoorebeke, die Untersuchungen auf. Die Witwe Depoorter veranlasst eine Sektion der Leiche ihres verunfallten Ehemannes. Auf deren Gesuch erfolgt am 30. September eine erste Exhumierung. Das Resultat der Leichenöffnung steht nun in auffallendem Widerspruch mit dem Rapport von Staffieri: Tiefer Eindruck des Brustkastens und ein Knochenbruch des linken Schenkels. Ein Schädelbruch wird verneint, hingegen der Tod der Verletzung des Brustkastens zugeschrieben. 18 Rippen waren zum Teil mehrmals gebrochen. Am 13. Oktober reichte die Witwe Depoorter an die königliche Staatsanwaltschaft Brügge in ihrem Namen sowie im Namen der drei unmündigen Kinder Strafanzeige gegen Unbekannt wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Tötung ihres Ehemannes ein.

In der französischen Presse erschienen nun Zeugenaussagen des einzigen nicht-belgischen Insassen des Ford Mercury, des französischen Journalisten Jean Leulliot. Er war in dem fraglichen Wagen als Gast auf dem Vordersitz mitgefahren. Darin behauptet Leulliot in aller Bestimmtheit, der belgische Begleitwagen habe Depoorter im Unfalltunnel überfahren. Auf Ersuchen der weiteren Insassen des belgischen Wagens hätte er sich jedoch bereit erklärt, vorläufig über das Vorkommnis zu schweigen, damit die Angelegenheit nicht in skandalöser Weise an die Öffentlichkeit gebracht werde und Witwe und Kinder auf diesen schrecklichen Tod vorbereitet werden könnten. Da die Insassen bei der polizeilichen Einvernahme nichts vom Unfall erwähnt hatten, breche er nun sein Schweigen. Der belgische Fahrer Louis Hanssens und die beiden belgischen Insassen, Charles Smulders und Guillaume Driessens, bestreiten jedoch kategorisch in der Presse diese Version. Die beiden belgischen Insassen standen in enger Beziehung zum belgischen Mondia-Team. Charles Smulders war der Sohn des Präsidenten des belgischen Radsportverbandes, Guillaume Driessens der Masseur und Pfleger der Mannschaft. Er wurde von der Schweizer Velofirma und dem Belgischen Verband je zur Hälfte bezahlt.

Die Tourleitung wollte lieber keinen Skandal als die Wahrheit

Vor allem der belgische Journalist Ray De Smet, Redaktor bei "De Rode Vaan", fordert nun in der belgischen Presse eine neue Untersuchung und einen gerichtlichen Prozess. Die Presseberichte und das Resultat der Autopsie bringen auch Bewegung bei den Urner Untersuchungsbehörden. Das Polizeikommando Uri fordert anfangs Oktober 1948 Dr. Davide Staffieri auf, zu dem Autopsiebericht sowie zu seinem Attest Stellung zu nehmen. Es stellt sich heraus, dass der als Zuschauer herbeigerufene Arzt den Tod des Rennfahrers zwar festgestellt, sich jedoch mit einer "an Ort und Stelle oberflächlichen Untersuchung der Leiche" begnügt hatte. Es wäre nach seiner Ansicht zudem am offiziellen Tourarzt gelegen gewesen, den Verunfallten genauer zu untersuchen.

Nun geht das Polizeikommando auch den Hinweisen nach, welchen bisher viel zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Da war einmal der Sanitätschef des SRB, Adolf Huber. Er hatte auf dem Sustenpass die Auto aufzuhalten. Nach seiner Aussage war der auffallende gelbe Amerikanerwagen den belgischen Fahrern Ockers und Depoorter gegen seine Weisungen gefolgt. Huber hielt in der Folge am Unfallort ebenfalls an und untersuchte die Leiche. Die Art der Verletzungen waren für den erfahrenen Sanitäter eindeutig: Depoorter musste überfahren worden sein! In Altdorf untersuchte er das Fahrrad. Der Anblick des toten Rennfahrers liessen den Sanitäter in der Nacht nicht schlafen. Morgens um 5.00 Uhr verliess er das Hotel und begab sich in Altdorf auf die Suche nach dem gelben Wagen. Dieser fand sich auf dem Rathausplatz. Mit dem einheimischen Parkwächter Zgraggen untersuchte er den Ford Mercury und entdeckte, dass am vorderen rechten Kotflügel die Farbe und an der Stossstange der Chrom rechts aussen frisch abgeschlagen war. Der Sanitär wies den einheimischen Parkwächter an, das fragliche Auto nicht wegfahren zu lassen. Sanitäter Huber orientierte nun SRB-Präsident Carl Senn. Gemäss den Aussagen von Huber hatte Carl Senn an dieser Version jedoch überhaupt kein Interesse und erklärte, dass der Unfall bereits untersucht und der Tatbestand abgeklärt worden sei. Wörtlich gab Huber zu Portokoll: "Herr Senn erklärte mir, dass es nun bei diesem Tatbestand bleibe und ich dürfe keine andere Version bringen und ein Theater machen. Er bat mich meine gemachten Angaben für mich zu behalten, ansonsten ich gewärtigen müsste, dass ich noch eingeklagt würde. Diese Unterredung zwischen mir und Herr Senn war sehr scharf gehalten." Tourdirektor Carl Senn erteilte dem belgischen Wagen in der Folge die Weiterfahrt zum Etappenort Lugano. Der fragliche gelbe Ford Mercury verliess Altdorf, aber auch die Tour-de-Suisse-Kolonne! Zweite Exhumierung bestätigt den Tod durch Überfahren

Die Polizeidirektion Uri ersuchte am 9. November bei der Staatsanwaltschaft um einen verhöramtlichen Untersuch, welcher durch Vize-Verhörrichter Josef Schuler geleitet wurde. Dies war keine leichte Aufgabe: Der Unfalltatbestand lag fünf Monate zurück, der Fall war Gegenstand einer Pressepolemik und der Untersuch hatte sich grösstenteils auf dem Rechtshilfeweg abzuwickeln. Dem Automobilexperten Fritz Streun in Bern wurde der Auftrag erteilt, ein Gutachten über den Unfallhergang zu erstellen, welches schliesslich 33 Schreibmaschinenseiten umfassten. Dazu wurden von Vize-Verhörrichter Josef Schuler alle wichtigen Zeugen einvernommen. Es meldete sich auch ein Zeuge Blumati, welcher beobachtet haben wollte, wie der Chauffeur des gelben Ford, den Wagen zuerst vom Tunneleingang vorgezogen hatte und mit einem weissen Tuch den vorderen Kotflügel von einem schwarzen, vermutlich von Gummi verursachten Streifen reinigte.

In Belgien wurde am 7. Januar 1949 auf Anregung des belgischen Untersuchungsrichters Fischer eine zweite Exhumierung durchgeführt. Die beiden Autopsien, bei denen am Leichnam beidseitig mehrere Rippenbrüche festgestellt wurden, führen nun zu den Schlussfolgerungen, dass Richard Depoorter nicht an der Schädelfraktur, sondern wegen den verschiedenen Rippenfrakturen gestorben ist. Die verschiedenen Rippenfrakturen wurden einer Pressung des Brustkorbes zugeschrieben. Die offiziellen Gerichtsmediziner zogen folgende Schlussfolgerung aus dem Sektionsergebnis: "Eine solche Knochenzertrümmerung kann nach unserem Dafürhalten nur infolge einer Eindrückung des Brustkastens durch ein Fahrzeug verursacht werden."

Am 25. Februar 1949 gibt Kronzeuge Leulliot in Paris nach der Eidesleistung zu Protokoll: "Der Wagen fuhr weder rechts noch links von Depoorter, sondern fuhr direkt über ihn hinweg. Der Schlag war so heftig, dass sämtliche Insassen des Wagens ihn hörten und das Überfahren des Körpers gespürt haben." Am 11. Oktober 1949 stellt Vizeverhörrichter Josef Schuler dem Regierungsrat den Antrag, den Fall den belgischen Behörden zu überweisen.

Kronzeuge fällt in Ohnmacht

Zum 50. Todestag von Richard Depoorter war das Buch "Leven en dood van Richard Depoorter" erschienen. Autor Koenraad Vandenbussche schildert darin den weiteren Verlauf der Untersuchung.

Am 9. März 1950 begann in Brüssel der Strafprozess wegen fahrlässiger Tötung gegen den Fahrer des belgischen Wagens, Louis Hanssens. Auf eine Strafverfolgung der beiden belgischen Insassen, Charles Smulders und Guillaume Driessens, wurde verzichtet. Während sechs Tagen hatten die Hauptzeugen auszusagen. Viel neues kam jedoch nicht mehr an den Tag. Als Zeugen einvernommen wurden in Brüssel auch Vize-Verhörrichter Josef Schuler, die Polizisten Zwyssig und Bissig, Gemeindepräsident Gerig und die Samariterin Dorli Walker-Baumann. Gespannt war man auf die Aussagen der beiden belgischen Insassen. Charles Smulders sagte aus, dass er bei der Tunneldurchfahrt durch das Autofenster etwas auf der Strasse liegen sah. Am Trikot erkannte er, dass es ein Fahrer der belgischen Mondia-Mannschaft sein musste. Smulders bejahte auch die Diskussion zwischen Leulliot und Hanssens, er selbst hätte jedoch keinen Schlag wahrgenommen.

In der Folge hatten die Gerichtsmediziner das Wort: Die beiden medizinischen Gutachten hatten die Rippenbrüche anfänglich noch verschieden interpretiert. Da jedoch das eine Gutachten an den Beinen der Leiche Spuren von Autopneus entdeckt hatte, schloss auch der zweite Gutachter ein Überfahren von Depoorters Körper nicht mehr aus. Von der Zeugenaussage des zweiten belgischen Insassen, vom Masseur und Pfleger der Mondia-Mannschaft, Guillaume Driessens, erhoffte man endgültige Aufklärung. In die Enge getrieben, wusste er jedoch nichts besseres zu sagen, als dass er nichts mehr wisse. Er brach vor dem Gericht zusammen und die Verhandlung musste zwanzig Minuten unterbrochen werden. Danach behauptete er, dass Hanssens nicht über Depoorter gefahren sei und Leulliot die Unwahrheit sage. Am Schluss seiner Aussage stammelte Driessens, dass er der beste Kamerad von Depoorter gewesen sei.

Neun Jahre langes Warten auf Schadenersatz

Der belgische Staatsanwalt ging vor allem auf den bescholtenen Leumund des Angeklagten ein. Er wies darauf hin, dass die Garage wie auch der Ford Mercury Hanssens Frau gehöre. Hanssens sei in den vergangenen drei Jahren wegen Hehlerei bei gestohlenen Autos und Urkundenfälschung beim Import amerikanischer Wagen dreimal verurteilt worden. Die letzte Verurteilung zu sieben Monaten Gefängnis lag lediglich zwei Wochen zurück. Für den ihm nun vorgeworfenen Tatbestand der fahrlässigen Tötung stand nach belgischem Recht eine Strafe von drei Monaten bis zu zwei Jahren. Hanssens behauptete am 23. März auch im Zeugenstand, dass er mit geringer Geschwindigkeit dem am Boden liegenden Rennfahrer noch rechtzeitig ausweichen konnte. Die Verteidigung wies die alleinige Schuld Depoorter zu, welcher -- den Sieg in Reichweite -- lebensgefährliche Risiken einging und den Tod beim Sturz in die Felswand gefunden habe. Das Zeugnis von Leulliot sei zudem nach so vielen Monaten wertlos.

Am 29. April folgte der Urteilsspruch. In einem ersten Punkt stellte das Gericht fest, dass Richard Depoorter nicht an den Folgen seines Sturzes in die Felswand gestorben war, sondern weil er von einem Auto überfahren wurde. Das Gericht erachtete dies als bewiesen nicht allein wegen der Autopsie, sondern vor allem wegen der Zeugenaussage von Jean Leulliot, der als Journalist keinen Grund zu leugnen hatte. Zweitens sah es das Gericht als bewiesen an, dass einzig das Auto von Hanssens den am Boden liegenden Depoorter überfahren konnte. Louis Hannsens wurde zu sechs Monaten Gefängnis, zu einer Busse von 1000, zur Tragung eines Prozesskostenanteils von 88'317 und zum Schadenersatz in der Höhe von 1'768'168 belgischen Franc verurteilt. Auch im Berufungsentscheid vom Dezember 1954 blieb die Schuld von Hannsens bestehen, die Gefängnisstrafe wurde jedoch auf einen Monat und die Schadenersatzsumme auf 1,5 Millionen belgische Franc vermindert. Die leidgeprüfte Gattin mit ihren drei Kindern musste jedoch bis zum Oktober 1957 warten. Bis sie und ihre drei Kinder neun Jahre nach dem tragischen Tod von Richard Depoorter das Geld erhielt.

Rolf Gisler-Jauch





RICHARD DEPOORTER (1915-1948)
Richard Depoorter wurde am 29. April 1915 in Ichtegem in Belgien geboren. Im Alter von 19 Jahren begann er als Junior mit dem Radrennsport. 1940 geriet er in deutsche Kriegsgefangenschaft, aus welcher er 1941 nach Belgien zurückkehren konnte. Depoorter galt vorerst als Spezialist für Eintagesrennen. So gewann er 1943 und 1947 den Radklassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich. Das Jahr 1948 sollte ihm auch den Durchbruch bei den Rundfahrten bringen. Er absolvierte die Luxemburg-Rundfahrt auf dem 5. Rang. In der Tour-de-Suisse lag er auf dem 3. Rang und hätte Altdorf hinter Ferdy Kübler gar als Gesamtzweiter erreicht.
Richard Depoorter war verheiratet und Vater zweier Mädchen von acht und drei Jahren. Seine Frau erwartete bei seinem Tod das dritte Kind, einen Sohn.

Literatur: Vandenbussche Koenraad, Leven en dood van Richard Depoorter, 1998.


 
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Texte und Angaben: Quellenverweise und Rolf Gisler-Jauch / Angaben ohne Gewähr / letzte Aktualisierung: 26.5.2023