Urner Sagen
Die weisse Gämse
An einem Muttergottestag oder anderem Feiertag auf die Gämsjagd zu gehen, war frevelhaft und brachte sicher Unglück. Vielfach erschien dann dem Jäger eine schneeweise Gämse, vielfach an der Spitze des Rudels. Wenn der Jäger sie aufs Korn nahm und schoss, geschah Grauenhaftes. Ein Jäger wollte seinen Lebtag nicht bekennen, was ihm nach dem Schuss geschehen war. Ein anderer glaubte auf der Alp Fiseten eine weisse Gämse getroffen zu haben. Diese kam jedoch auf den Jäger zu. Auch der zweite und dritte Schuss konnte ihr nichts antun, sondern sie stiess den Jäger über die Fluh hinaus, wo der Jäger tot liegen blieb. Drei andere Jäger zogen an Mariä Himmelfahrt Mitte August miteinander auf die Jagd und schossen eine weisse Gämse. Als sie dieselbe holen wollten, war sie verschwunden, und an ihrer Stelle stand eine schöne, glänzendweisse Frau. Sie schaute die Jäger mit vorwurfsvollem Blicke an und sprach: «Ihr habt meinen Tag geschändet, und dafür müsst ihr eine Strafe auf euch nehmen. Ich will euch die Wahl lassen, ob neun Ellen tief unter den Firn oder auf die drei höchsten Berge verbannt oder zu Staub und Asche zerrieben zu werden.» Die drei frevelhaften Sünder wählten die Verbannung auf die höchsten Berge und wurden als «Steimanndli» auf den Uri-Rotstock, auf den Rosstock und auf die Hohe Windgälle versetzt. Alle hundert Jahre riefen sie am 15. August einander zu. Der erste Sünder: «Wie lange sind wir schon hier?» Der zweite: «Wie lange müssen wir noch bleiben?» Und der dritte: «Bis am Jüngsten Tag, und dann müssen wir erst noch schauen wie es uns ergeht?»
Foto: (c) Tony Gnos-Lötscher, Film «Weisse Gämse im Schächental» (2007).
Müller, Sagen aus Uri, Band II, Nr. 721, S. 159 ff.
Der Volksglauben besagt, dass derjenige, der eine weisse Gämse schiesst, noch innerhalb des nächsten Jahrs selber sterben wird. Als reales Beispiel gilt der österreichische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, der 1914 einem Attentat in Sarajevo zum Opfer fiel. Ein knappes Jahr zuvor hatte er eine weisse Gämse geschossen.
Mit der Urner Jagdgesetzgebung fällt der Muttergottestag (15. August) nicht mehr in die Jagdzeit. Zudem gelten die Sonn- und Feiertage als Schontage (Jagdverordnung, KJSV RB UR 40.3111, Artikel 18 und 19).
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IN DIESER SAGE VORKOMMENDE FIGUREN
SAGENHAFTE ÖRTLICHKEITEN
Spiringen, Fiseten
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SAGENHAFTE THEATERSTÜCKE
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