Urner Volkstanz
Beim Reihentanz bildeten die Tanzenden beiderlei Geschlechts, sich an den Händen haltend, lange Ketten, mit denen man verschlungene Figuren beschrieb. Im 14. Jahrhundert kam, ausgehend von den ritterlichen Hoffesten, beim Adel der Paartanz auf. Er bot wesentlich mehr Möglichkeiten zu erotischen Annäherungen. Im ausgehenden 15. Jahrhundert wurde der Paartanz auch von der bäuerlichen und städtischen Bevölkerung übernommen, nicht zur Freude der Geistlichkeit: Es begann ihr Jahrhunderte dauernder Kampf wider das Tanzvergnügen. Im Alten Urner Landbuch von 1607/1608 wurde in Artikel 222 das Tanzen an allen Abenden der Namenstage der Zwölf Apostel und an allen Feiertagen, welche einen Nachheiligtag hatten, vom Vesperläuten bis am Morgen, wo man alle Messen und Ämter abgehalten hatte, bei Busse verboten. Die gleiche Regelung galt für Auffahrt, Fronleichnam und alle Marien-Feiertage. Weiter war das Tanzen verboten, wenn über das Wetter geläutet wurde und an den restlichen Feiertagen während der Vesperzeit, ausgenommen an offenen Hochzeiten und Kirchweihen. Das Tanzverbot war somit noch auf die Hauptzeiten des kirchlichen Festkalenders beschränkt. Das sollte sich aber alsbald ändern.
Durch ein Sittenmandat von 1710 wurde dann das Tanzen durch die Landsgemeinde auch an Sonntagen verboten. Die «obrigkeitlichen väterlichen Ermahnungen angesichts der betrübten, gefährlichen und teuren Zeiten mit dem Drohfinger des erzürnten Gottes» an das Volk folgten sich nun regelmässig. In der Regel wurde das Tanzen durch den Unschuldigen-Kindlein-Landrat am 28. Dezember bis nach vollendeter Nachgemeinde am zweiten Maien-Sonntag verboten. Wer an der Fasnacht oder Kirchweih tanzen wollte, sollte dies – nur an den erlaubten Tagen und wenn überhaupt – nur bis zum Betglocken-Läuten, dem Ave-Maria, um 9 Uhr tun dürfen. Die Sittenmandate konnten jedoch nicht verhindern, dass die Gnädigen Herren und Oberen mit «Unlieb» vernehmen mussten, dass man sich erfrecht habe, zu verbotener Zeit zu tanzen. «Hochdieselben» hätten zwar – wie man jeweils verlauten liess – billige Ursache gehabt, die Fehlbaren zu gebührender «Correction» zu ziehen, was die Gnädigen Herren aus angeborener Güte jedoch unterliessen und dafür jedermann wiederum «inskünftig vätterlich» ermahnen wollten, sich nicht mehr zu er frechen, an Sonn- und Feiertagen zu tanzen. Die Übertritte wurden im Ratsprotokoll festgehalten.
Nach dem Abzug der fremden Armeen der Helvetik wurde zum Feldzug gegen den Walzer geblasen. Da das seit einigen Jahren eingeführte «Walsen» angeblich vielen zum Ärgernis geworden war, wurde dieser Tanz «gänzlich abgestellt» und verboten. Der Walzer er freute sich jedoch weiterhin grosser Beliebtheit, denn die Verbote wiederholten sich regelmässig. Die Obrigkeit musste das nach ihrer und geistlicher Ansicht sowohl in sittlicher Hinsicht als auch der Gesundheit schädliche, ärgerliche und übertriebene Walzen ständig untersagen. War das Tanzen schon unsittlich und sündhaft, was für eine Frechheit war es dann, wenn man für diese Sündhaftigkeit noch Geld erheischen wollte! Hinter dem Tanzvergnügen standen die wirtschaftlichen Interessen der Wirte und Musikanten. 1807 wurde die Vergnügungssteuer geboren.
Im ersten gedruckten Urner Landbuch von 1823 wurde das Tanzen nach 9 Uhr abends, wie auch an Sonn- und Feiertagen, an deren Vorabenden und an Fasttagen, wie auch an Markttagen, verboten. Der Landrat hatte zudem noch das Recht, jährlich am Tag des Unschuldigen Kindes nach Umständen und Befinden das Tanzen bis zur künftigen Landsgemeinde (erster Sonntag im Mai) zu beschränken oder ganz zu verbieten. Sämtlicher schul- und lehrpflichtigen Jugend wurde nicht nur der Besuch der Tänze, sondern auch das Zuschauen bei denselben verboten. 1863 erlaubte die Landsgemeinde das Tanzen bis Mitternacht.
Trotzdem verzog sich das Tanzen immer mehr in die so genannten Winkellokale. Diese Winkeltänze gediehen üppig wie das Unkraut und lockten die Tanzlustigen immer zahlreicher an. Verbotene Früchte schmeckten schon damals süsser! Das Übel wurde sogar so gross, dass es selbst ein Korrespondent des «Urner Wochenblattes» im Frühjahr 1877 für vorteilhaft ansah, wenn die Tanzlustigen wieder auf die öffentlichen Tanzböden zurückgeführt würden. Zu allem Überfluss beschränkte der Landrat das Tanzen während der Fasnacht noch mehr, als dass es das Gesetz vorsah. Die Fasnacht war nebst dem Montag der Kirchweihe die einzige Möglichkeit, wo die ganze Nacht durchgetanzt werden konnte. Die speziellen Verbote für die Fasnacht wurden deshalb für widersinnig erachtet, da jahraus, jahrein, an Sonn- und Feiertagen, sogar im Advent, verbotenerweise getanzt wurde. Man appellierte an die Wächter des Gesetzes, welche ihre Augen und Ohren nicht so stark verschlossen halten sollten. Auch das Priesterkapitel Uri pochte in einem Schreiben an den Landrat, dass das Tanzverbot an Sonn- und Feiertagen strenger gehandhabt werde. Die Geistlichkeit war der Ansicht, dass die Genusssucht leider auch in unserem Kanton einen Grad erreicht hatte, der bei allen Gutgesinnten Bedenken erregen musste. Kam ein Sonntag, wo die Möglichkeit bestand, dass getanzt wurde, schrieb der Pfarrer vorgängig der Polizeidirektion, den Polizeidiener vorbeizuschicken, um die Fehlbaren anzuzeigen und um dem Unfug des Tanzens entgegenzutreten. Das Sonntagsgesetz vom 6. Mai 1900 bestätigte die Sittenstrenge und Tanzverbote. Das war also die gute alte Zeit!
Zwei Bevölkerungsgruppen konnten sich mit diesen massiven Tanzbeschränkungen immer weniger einverstanden erklären: die Jugend und die Wirte. Jugendlichen war bis zum vollendeten 18. Altersjahr der Zutritt zu öffentlichen Anlässen verboten. Der Tanzboden war vor allem auch Heiratsmarkt, welchen man gerne erweitert hätte. Für die Wirte waren die Tanzanlässe eine willkommene Einnahmequelle. Zudem stellten die sittenstrengen Tanzverbote nicht gerade eine Touristenattraktion dar. Es kam zu drei Initiativen zur Einführung des Sonntagstanzes, die jedoch sowohl 1909 und 1910 als auch 1920 vom Urner Stimmvolk abgelehnt wurden.
So hatten denn «d Silener Buäbä» und die restlichen Tanzfreudigen «ds Tanzä und das Liäbälä» also nicht nur wegen des mangelnden Geldes im Volkslied, sondern vor allem wegen der Opposition der Geistlichkeit und ihrer in dieser Sache hörigen Behörden am Chilbisonntag weiterhin ruhen zu lassen. Das Tanzbein wurde deshalb an der so genannten Nachchilbi, am Chilbimontag, umso freudiger geschwungen: «Düli düli düi pfyyft ds Klaarinett, hittä gähmmer nit i ds Bett!» Bei den Bauern blieb am Sonntag dadurch der Hund noch nützlicher als das Milchvieh. Er stand als Wächter vor dem Haus, und sobald Bärri knurrte, passte das Tanzvolk auf, die Handorgel und das «Mäitli» wurden fahren gelassen und die Spielkarten zur Hand genommen. An der Landsgemeinde hatte man aber gegen das Tanzen gestimmt – wegen des guten Scheins. Nach den drei Tanzinitiativen flaute der Kampf gegen das Sonntagstanzverbot ab. Es folgten wirtschaftlich schwere Zeiten, welche schliesslich nochmals in einen Weltkrieg führten. Ein Jahr nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs wurde wiederum eine Initiative zur Änderung der Tanzvorschriften eingereicht. Nach dem Willen der Initianten sollte das Tanzen nur in der Advents- und Fastenzeit, an den wichtigsten kirchlichen Ein Jahr nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs wurde wiederum eine Initiative zur Änderung der Tanzvorschriften eingereicht. Nach dem Willen der Initianten sollte das Tanzen nur in der Advents- und Fastenzeit, an den wichtigsten kirchlichen Feiertagen und deren Vorabenden sowie an Märkten und an deren Vorabenden verboten sein. Das Priesterkapitel Uri opponierte weiterhin, da der Kern der Sonntagsheiligung – der Sakramentenempfang und der Vormittagsgottesdienst – gefährdet und bei vielen völlig verunmöglicht würde. Auch die Mehrheit des Rates war der Ansicht, dass der Sonntag für die Sonntagsheiligung bestimmt sei, und nicht, um sich vom Samstagstanz auszuruhen. Die Tanzinitiative wurde 1947 in der Volksabstimmung mit einer Zweidrittelsmehrheit abgelehnt. Lediglich die beiden Gemeinden Erstfeld und Flüelen stimmten dem Begehren zu. Der Gegenentwurf des Landrates wurde hingegen knapp angenommen. Das Tanzen an den Kirchweihsonntagen war nun ab 15 Uhr ohne Bewilligung erlaubt und die Polizeistunde an diesen Tagen aufgehoben (Freinacht). In der Fasnachtszeit galt diese Regelung für den Schmutzigen Donnerstag und Güdelmontag. Die weiteren Kostüm- und Maskenbälle ausserhalb der Fasnachtszeit waren bewilligungspflichtig und durften vom 7. Januar bis zum Schmutzigen Donnerstag werktags veranstaltet werden. Daneben durften öffentliche bewilligungspflichtige Tanzveranstaltungen (in der Regel jährlich zwei pro Gastwirtschaftsbetrieb) abgehalten werden. Generell verboten blieb das Tanzen während der Fasten- und Adventszeit, an den Samstagabenden, an den Sonntagen (bis 15 Uhr) und an den wichtigsten Feiertagen sowie deren Vorabenden und an Markttagen. Mit dem Gastwirtschaftsgesetz von 1984 sind öffentliche Tanzveranstaltungen lediglich noch an den wichtigsten zehn Feiertagen verboten. Das Tanzen war nun in der Bar auch wochentags bis 2 Uhr morgens möglich. Nach der Revision von 1998 sind öffentliche Tanzanlässe noch an vier Tagen beziehungsweise Nächten verboten: Karfreitag, Eidgenössischer Bettag, Allerheiligen und Heiligabend!
Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 20 ff.
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DER URNER VOLKSTANZ IM DETAIL
Das Tanzen in der Urner Sage
In der Urner Sage birgt der Tanz immer etwas Unheimliches in sich. Der Tanzboden bot die Möglichkeit, über die Schnur zu hauen. Hier war der Ort, wo das von der katholischen Kirche diktierte sittenstrenge Normverhalten überschritten wurde. Kirche und Staat erlaubten höchstens das Tänzchen in Ehren. Diese Ebene wurde verlassen, wenn man sich bodenlos lustig gab, es gar mordslustig wurde und die ausgelassene Gesellschaft die ganze Nacht hindurch tanzte und soff und «haleegerte». Wenn der Tanzanlass so ausartete, war der Teufel bestimmt nicht weit. Wohl schaute er den Tanzenden schon durch das Fenster zu. Auch nach Eduard Renner (1891–1952), dem Verfasser des Buches «Goldener Ring über Uri», lauerte auf dem Tanzboden Unheil, und man tat gut daran, diesem und jenem sein Glas hinzuhalten und ihn zu bitten, einen Trunk daran zu nippen: «Tuä mèr Bscheid», denn hier schieden sich die Wohl- und Übelgesinnten allzu rasch in Feindschaft und Streit. Der Teufel trat in der Sage auch als Tänzer auf und erschien als fremde elegante Gestalt, welche in der Gesellschaft am besten und mit den schönsten Mädchen tanzte. Plötzlich hörte man dann ein eigenartiges «Träppälä», und beim fremden Tänzer kamen Bocksfüsse unter den Hosenbeinen zum Vorschein. Mädchen, welche sich gegen den Rat des Vaters zu einem Tanzanlass begaben, mussten erfahren, dass an diesem Abend nur der Teufel mit ihnen tanzte. Dies konnte auch der Tanzschenker sein. Der Einzige, welcher den ungebetenen Gast aus dem Tanzlokal vertreiben konnte, war der Dorfpfarrer. Der Tanzboden wurde damit zum Kampfplatz der Geistlichkeit gegen das Böse um die Seelen der Tanzenden. Die Sage stand hier im Dienst der Erziehung zur Sittenstrenge und war für die Geistlichkeit ein willkommenes Instrument, um dem Volk einzutrichtern, dass der Tanzboden ein Ort war, wo man Gefahr lief, dem Teufel zu begegnen. Die Sage sollte das tanzlustige Jungvolk warnen, die von der Kirche diktierte Ebene des ehrsamen Tänzchens zu verlassen und sich ausgelassener Stimmung hinzugeben. Die gleiche erzieherische Wirkung erhofften sich die Eltern, indem die Sage den tanzlustigen Kindern mit dem Teufel drohte, wenn die Jugend die Tanzlust befiel.
Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 20.
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Streitschrift wider das Tanzvergnügen
Im Jahre 1822 wurde in Uri «mit Bewilligung der geistlichen Obern» eine Schrift herausgegeben, welche den nicht gerade kurz und bündigen Titel trug: «Gedanken über den Tanz von S.T. Wohledelgeborenen Herrn Thadäus Schmid sel. Andenkens, weiland Landammann vom löbl. Kanton Ury, gefunden unter seiner Verlassenschaft und in Druck herausgegeben von J.M.E.» Karl Thadäus Schmid wurde 1741 als Sohn eines Gardehauptmanns in Altdorf geboren. Schmid war Landammann von Uri in den Jahren 1788 – 1790 und 1804 –1806. Er verstarb im Jahre 1812. Im gleichen Atemzug ist aber auch der damalige Pfarrer von Altdorf, Karl Joseph Ringold (1737–1815) zu nennen. Der Historiker Stefan Röllin, welcher Leben und Wirken dieses Priesters näher untersuchte, meint zur erwähnten Schrift, dass die «Gedanken über den Tanz» zwar aus dem Nachlass von Thadäus Schmid stammen, sie aber über weite Strecken so sehr Ringolds Sprache erkennen lassen, dass zumindest eine enge Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Freunden vermutet werden dürfe. Thadäus Schmid stützte sich in seiner Argumentation auf die Heilige Schrift und auf Schriften von Heiligen der katholischen Kirche. Der Tanz war für den Verfasser der Inbegriff des Weltgeistes, des Vergnügens der Sinne und der Begierlichkeit. Der Mensch hatte aber alle seine Handlungen auf die Ehre Gottes einzurichten. Im Tanz sah Schmid aber nur «die reizenden Gebärden, die lockenden Blicke, die frechen Stellungen, die leichtsinnigen Scherze, die ausgelassenen Vertraulichkeiten, die wohllüstigen Berührungen, die weichliche Musik, die halb nackende Kleidung», alles Handlungen, die man keineswegs Gott aufopfern durfte. Die grösste Gefahr stellte für die (männliche) Seele das «aufs köstlichste und üppigste ausgeschmückte Weib» dar, welches die Begierlichkeit bei den Männern aufzuwecken versuchte, welche vom Weltgeist schon eingenommen waren und nichts anderes suchten, als die Sinne zu vergnügen. Auf den einen religiösen Nenner gebracht: Die Tänze widersprachen den Grundsätzen des Evangeliums, den Taufgelübden und Hauptpflichten des Christen.
Quelle: Schmid, Gedanken über den Tanz, S. 2 ff.; Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 23.
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Sonntagstanzinitiativen 1909 und 1910
Im Frühjahr 1909 wurde von 1096 Einwohnern aus mehreren Gemeinden ein Initiativbegehren eingereicht, welches die Abhaltung von Tanzunterhaltungen am Kirchweihsonntag oder Feiertag in jeder Gemeinde ab 4 Uhr nachmittags gestatten wollte, in dem Sinne, dass für jede Gemeinde und Filiale je nur ein Sonntag als Kirchweihsonntag anzusehen war. Für Gesellschaftsanlässe, namentlich auch für die Bedürfnisse der Fremdenindustrie, sollte der Regierungsrat, beziehungsweise die Polizeidirektion, eine Tanzbewilligung ausstellen können. Die Initiative wurde deshalb hauptsächlich aus Wirtekreisen lanciert. Mit ein Grund war, dass die Wirtepatente durch den Regierungsrat provisorisch erteilt wurden; bei Übertretung der gesetzlichen Vorschriften war der Patententzug gesetzlich angedroht. Zudem beklagte sich ein Teil der Wirte über immer höhere Besteuerung und suchte deshalb neue Einnahmequellen. Im Kanton entbrannte bis zur Landsgemeinde Anfang Mai ein heftiger Abstimmungskampf. Die Geistlichkeit ergriff vehement die Opposition gegen die Tanzinitiative. Als Gegner traten auch die Konservative Partei und ihre Parteizeitung, das «Urner Wochenblatt», sowie zwangsläufig alle katholischen Vereine und der Christlich-Soziale Gewerkschaftsbund auf. Der Abstimmungskampf zeigte, dass es um mehr als bloss um den Chilbi-Tanz ging. Das Tanzvergnügen war nur ein Teil der neuen Freizeitgestaltung. Der Sonntag sollte nicht mehr Ruhetag, sondern Genusstag sein. Die Geistlichkeit unternahm deshalb alles, um den Sonntag weiterhin für Gott im Sinne der Sonntagsheiligung zu retten und betrachtete die Sonntagstänze mit ihrem weltlichen Lärm und ihrer Entfesselung sinnlicher Leidenschaften als unvereinbar mit dem dritten Gebot Gottes. Die Seele des Menschen sollte nach den materiellen Sorgen einer ganzen Woche aus dem irdischen Getriebe herausgerissen und Gott und ihrer übernatürlichen Bestimmung näher gebracht werden. Die Priesterschaft machte in ihrer Argumentation das Tanzen auch für die ganze Sittenverderbnis verantwortlich. So wurde nach ihrer Ansicht der Alkoholismus durch den Sonntagstanz noch gesteigert. Man habe im Kanton mehr als 150 gewohnheitsmässige Alkoholiker oder Trinker und eine ebenso grosse Zahl solcher, die es bald werden würden. Es wurde das Bild der armen Kinder und der weinenden Mütter gezeichnet, deren Männer und Söhne Tag und Nacht im Wirtshaus spielten und tranken und ihre Familien herzlos in Not und Elend dahin darben liessen. Das Volk wurde aufgefordert, all die Götzenaltäre, wo der Genusssucht geopfert werde, zu zerstören. Die Kirche wandte sich auch in mehrseitigen Flugschriften an die Regierung und an das Urner Volk. Das vehemente Auftreten der Geistlichkeit stiess jedoch in fortschrittlichen Kreisen auf starke Ablehnung, da man eine Einschränkung der weltlichen Freiheit durch die Geistlichkeit befürchtete. Man erstrebte die Loslösung des Sonntags von der Kirche. Was mit einer Initiative für den Chilbi-Tanz begonnen hatte, artete in einen Wahlkampf aus, wo Schlagwörter wie Antiklerikalismus, Liberalismus, Sozialismus verwendet wurden. Regierungsrat und Landrat beantragten der Landsgemeinde die Tanzinitiative zur Ablehnung. Die Initianten wehrten sich gegen das Argument der Sonntagsentheiligung. Davon könne keine Rede sein, indem um 4 Uhr nachmittags die Gottesdienste vorbei wären und ein Vergnügen am Sonntag wohl gestattet sei. Man sah im Tanzen nicht Unehrbares: «Ein Ländler in Ehren soll niemand verwehren.» Nach Meinung der Initianten lag es auch im Interesse der Volkswohlfahrt, den Tanz am Kirchweihsonntag zu gestatten, gegenüber dem jetzigen Zustand, der viele veranlasste, am Werktag zu tanzen. Erachtete die Geistlichkeit die Begegnung zwischen Mann und Frau beim Tanzen als unsittlich, war der Tanzboden für die lnitianten der wichtigste Platz für den Heiratsmarkt, und sie betrachteten das Tanzen als Teil der Gesellschaftsordnung, da er die Bekanntschaft zwischen Jüngling und Jungfrau vermittelt. Die beiden Geschlechter wären nun einmal für einander geschaffen und die Ehe eine gottgefällige Einrichtung. Ein Ratsherr meinte gar in einer Landratssitzung, dass er im Tanzen ein Mittel erblicke, die Bevölkerungszahl zu heben. Es gebe zu viele alte «Mäitli», erhielten sie Gelegenheit zu tanzen, so kämen ihrer mehr unter die Haube. Das Schlagwort der Heirats- und Tanzlustigen lautete somit: «Mer wend tanzä, mer wend wibä und derbi katholisch blibä!» Die Initiative wurde dann an der Landsgemeinde vom 2. Mai 1909 abgelehnt.
Mit der Tanzlandsgemeinde hatte sich der Tanzsturm aber noch nicht gelegt. Von den Initiantenkreisen wurde nämlich das Mehr nie anerkannt, sondern vielmehr für die Initiative beansprucht. Man wollte deshalb nächstes Jahr mit einer neuen Initiative vor das Volk treten. Es wurde weiter von Stimmrechtsverletzungen gesprochen. Wie zu erwarten war, wurde im Frühjahr 1910 die zweite Tanzinitiative eingereicht. Sie entsprach in den Grundsätzen der ersten. Der Regierungsrat sollte zum Unterschied besondere Tanzbewilligungen nicht mehr durch den Polizeidirektor erteilen, sondern dafür ein spezielles Reglement ausarbeiten.
Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 23 f.
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Schnitzelbank-Vers zur Tanzinitiative (1921)
Der Kunstmaler Heinrich Danioth betrat in dieser Zeit das satirische Parkett der Altdorfer Fasnacht. Zu seinem Holzschnitt dichtete Forstingenieur Max Öchslin (1893 – 1979) den Schnitzelbank-Vers:
Das Tanzbein, ei du liebe Zeit,
Ist aller Jugend Herrlichkeit.
Derweil man eben ungeniert,
Mit hübschen Mädels amüsiert.
Und solches Nasch- und Zuckerzeug,
Ist halt von ganz besonder'm Teig.
Weshalb es hier zu Lande ist,
Gehütet wohl von jedem Christ,
Und niemals darf im Sonntagsstaat
Getanzet werden. – Separat.
Geschieht es wohl im Bauernhaus.
Doch das Gesetz macht nichts daraus.
Derselben Meinung war im Mai,
Die Landsgemeind' mit lautem Schrei.
Verwarf sie tanzliches Begehren,
Und streute aus die hohen Lehren:
Recht sittsam sei der Mensch fürwahr,
Im Urnerland das ganze Jahr! –
Wohlan! Wir wollen's alle glauben,
Und fester unser Tanzbein schrauben!
Quelle: Nächstenliebe, Schnitzelbank «Der Föhn» 1921.
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Volkslied erhält zusätzliche Strophe
An der Landsgemeinde von 1910 wurde die Initiative zur Einführung des Sonntagstanzes zum zweiten Mal bachab geschickt. Ein Geistlicher brachte es auf den Punkt: «Ds Tanzä wär nit schlimm, aber ds Häigaa!» Das Urner Tanzlied «Rooti Chriäsäli» erhielt nach dieser Tanzlandsgemeinde eine zusätzliche Strophe:
«Wènn yyserä Pfarrer äu ä Schatz tèrfft ha,
so wurd är scho äü fryyner.
Und bi jeedem Chilbitanz,
wurd em de d Täibi chlyyner.»
Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 24.
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Volkslied als Protest gegen das Tanzverbot
Im Jahre 1920 wurde ein weiteres Kapitel im Kampf gegen den Sonntagstanz geschrieben, indem eine dritte Tanzinitiative mit über 800 Unterschriften eingereicht wurde, welche inhaltlich ihren beiden Vorgängerinnen entsprach. Man forderte am Sonntag den Chilbitanz und die Tanzmöglichkeit für Gesellschaftsanlässe, namentlich für die Bedürfnisse der Fremdenindustrie. Die Begründung ging dahin, dass nun auf den Krieg bessere Zeiten folgen würden, und auch das arbeitende Volk sich einmal im Jahr am althergebrachten Chilbisonntag bei einem ehrhaften Tanze unterhalten dürfe. Die Haltung der Priesterschaft war bekannt. Auch für die Mehrheit des Urner Landrates hatte das Vergnügen am Sonntag immer noch keinen Platz. Das «Urner Wochenblatt» stellte die Frage, ob der Kirchweihtanz der Dank Uris an Gott für die Bewahrung vor dem Krieg sei und der Gesellschaftstanz ein Mittel, um zu besseren Zeiten zu kommen? Die fortschrittlich-demokratische Partei wollte das Begehren nicht zur Parteisache machen, da die Frage nicht politischer Natur war. Wohlgesinnt gegenüber der Initiative war wiederum die junge, tanzfreudige Generation. Zu dieser zählten nun auch der 20-jährige Berti Jütz (1900 – 1925) und der 24-jährige Heinrich Danioth (1896 –1953). Der Text von «Zoogä-n-am-Boogä» wie auch anderer Urner Volkslieder sind somit vor dem Hintergrund dieser Bestrebungen zur Lockerung des Sonntagstanzverbots zu stellen:
«Und wenn’s dr Pfarrer nit will lyydä,
So gänd em än alti Kafemiili z tryybä!
Und wer nit tanzä-n und beedälä cha,
Dem trüüret, wènn's ä butzt, käi Tyyfel drnah!»
Die Landsgemeinde lehnte auch das dritte Begehren zur Lockerung des Sonntagstanzverbotes am 2. Mai 1920 ab.
Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 25.
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Die Strafe des erzürnten Gottes
Naturkatastrophen und andere Geisseln wie Kriegsgefahr, Teuerung oder Viehseuchen wurden früher dem strafenden Gott zugerechnet. Um ihn wieder zu besänftigen, erliessen die «Gnädigen Herren und Oberen» sowie «der Wohlweise Landrat» Ende Jahr, am 28. Dezember, am Tag des Unschuldigen Kindleins, Verbote und Ratschläge, welche im neuen Jahr all die Üppigkeiten und Vergnügen einschränken sollten, waren sie doch – zumindest nach der Meinung der Obrig- und Geistlichkeit – die Ursache allen Übels. Triebfeder für eine strenge Sittenordnung wurde die Geistlichkeit. Sie suchte den Sonntag als Tag des Herrn möglichst frei von jedem weltlichen Vergnügen zu halten. Die Herren und Oberen hatten für die Anliegen ein offenes Ohr und liessen diese in die Sittenmandate einfliessen, welche auf der Kanzel verlesen wurden.
Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 20.
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Tanzschenker
Ursprünglich erhoben die Musikanten selbst den Spiellohn von den tanzenden Paaren. Als Einzüger stellte man einen Tanzschenker an. Dieser war gleichzeitig Aufseher und für Zucht und Ordnung verantwortlich. Er verfügte über seine «Spillmäitli», welchen die Aufgabe zufiel, mit den männlichen Gästen ohne Begleiterinnen zu tanzen.
Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 23 f.
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Opposition gegen Jazztanz und Tango
Vor allem in den 1920er-Jahren richteten die Moralisten ihre Geschütze auch gegen die «modischen Affentänze». Nachdem der Walzer von der Moral akzeptiert war und sich unter die traditionellen Tänze einordnete, kam neuer Rhythmus auf die Urner Tanzböden. Das «Urner Wochenblatt» bediente sich für die musikalische Reinhaltung mit Artikeln von ausserkantonalen Zeitungen. «Der Europäer ist auf dem besten Wege, zu vernegern», hiess es da. Die Jazzbands würden «mit ihrem Geplärr und Miauen, mit ihrem Gegröhl und Getute» der Kultur den Totentanz spielen. Europa wurde auch vom Tangofieber heimgesucht. Das eng umschlungene Tanzen, Wange an Wange, bedeutete für viele den Untergang jeglichen Anstands. Das Gleiche gab es vom Twostep, dem so genannten Schieber, zu berichten und mindestens einer fragte sich, ob das Volk närrisch geworden sei, «dass es sich so windet, verdreht, krümmt, gigampft, watschelt, jedes bestrebt, das andere an verrücktem Tun zu überbieten!»
Quelle: Oltener Tagblatt, zitiert, in: UW 6/1927. UW 2-7/1917, 6/1927; Literatur: Gisler-Jauch Rolf, Fasnächtliches Uri, S. 23.
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GESCHÄFTE AN DER LANDS- UND BEZIRKSGEMEINDE
Sonntag, 4. Mai 1851
Siebengeschlechtsbegehren bezüglich des Tanzens
Landesgemeinde vom 4. Mai 1851
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Detailangaben
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Sonntag, 3. Mai 1863
Siebengeschlechtsbegehren betreffend das Tanzen
Landesgemeinde vom 3. Mai 1863
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Detailangaben
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Sonntag, 2. Mai 1920
Volksbegehren (Abgabe bei Tanzanlässen).
Landesgemeinde vom 2. Mai 1920
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Detailangaben
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Sonntag, 2. Mai 1920
Initiativbegehren (Sonntagstanz am Kirchweihsonntag und bei Gesellschaftsanlässen).
Landesgemeinde vom 2. Mai 1920
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Detailangaben
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EREIGNISSE ZUM VOLKSTANZ
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VOLKSMUSIK
JODELGESANG
VOLKSLIEDER
URNER MUNDARTLIEDER
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