Register der Volksfrömmigkeit
Krankheit
Der Glaube, wonach Krankheiten vor allem von Dämonen, Hexen und unruhigen Totengeistern verursacht wurden, war im ganzen Alpenraum verbreitet. Die Wesen aus der Welt zwischen dem Diesseits und dem Jenseits lauerten ihren Opfern an bestimmten Stellen auf, schossen mit unsichtbaren Pfeilen auf sie, schlugen sie nieder, rangen mit ihnen oder nahmen von ihnen Besitz. Die Opfer wehrten sich, und mit der Hilfe Gottes und der Heiligen wurden sie die dämonischen Wesen – und mit ihnen die Krankheit – wieder los. Besonders gefürchtet als Erreger von Krankheiten waren Kobolde, Nachgespenster und die Seelen unruhig Verstorbener. Allen gemeinsam war das Auftreten dieser Wesen, das fast immer an bestimmte Zeiten und Orte gebunden war.
Als besonders gefährlich galten die Fronfasten. In diesen Tagen waren die Geister am unruhigsten und aufsässigsten. Hexen ergaben sich dem Teufel. Sie fuhren zum Tanz, hoppelten als gespenstische Hasen herum und zauberten denjenigen Krankheiten an, die nach dem Einnachten noch unterwegs waren. Diese Begegnungen blieben in der Regel ohne Folgen. In Gefahr waren die Menschen erst dann, wenn die Gestalten den Vorübergehenden den Weg versperrten, sie anredeten, ansprangen, auf ihnen ritten oder mit ihnen rangen. Dann wurden sie krank. Die Symptome waren gewöhnlich Fieber und geschwollene Köpfe. Entstand daraus ein Siechtum, das über Wochen oder Monate anhielt, war der Kampf verloren und der Tod nahte.
Fast immer waren diese Gestalten schwarz oder grau, seltener weiss. Selten waren Beschreibungen der Gesichter. Von den Gestalten selbst war meist nichts zu sehen. Wahrgenommen wurden bloss die Lichter, die sie mit sich führten.
Wie die dämonischen Kobolde konnten auch umher irrende Seelen von Verstorbenen Krankheiten oder gar den Tod bringen. Weil die Toten den Menschen auch Gutes erwiesen, hatte das Volk zu ihnen ein ambivalentes Verhältnis. Man fürchtete sie und schätzte gleichzeitig ihre Hilfe. Darüber hinaus konnte die nächtliche Begegnung mit einem Totengeist auch als Hinweis auf den bevorstehenden plötzlichen Tod eines Lebenden gedeutet werden. Als besonders gefährlich galten die Seelen von Verstorbenen, die als Lebende gegen die Gesetze Gottes verstossen und ihre Verfehlungen vor dem Tod nicht gebeichtet hatten. Die fehlende Sühne verhinderte die Ruhe des Toten. Zur Strafe musste seine Seele an bestimmten Orten wandeln, bis die Schuld abgebüsst war oder ihm durch eine bestimmte Handlung Erlösung zuteil wurde. Manchmal halfen Gebete und Wallfahrten – oder vorbestimmte Antworten auf Fragen. Wer sie gab, lief jedoch Gefahr, selbst in Kürze das Diesseits mit dem Jenseits vertauschen zu müssen.
Gefährlicher als einzelne Seelen wurde dem Menschen das Heer der namenlosen Toten, das in dunklen Nächten als heulender Sturmwind über die Höhen und durch die Täler brauste. Schwarze Hunde jagten dem geisterhaften Zug voraus und bellten mit hohler Stimme „üs äm Wäg, üs äm Wäg“ (aus dem Weg, aus dem Weg). Wer die Warnung nicht beachtete und den Weg der Toten kreuzte, wurde krank. Er erblindete, der Kopf schwoll an oder dann blieb der Unglückliche wochenlang ans Bett gefesselt. Dies galt auch für Totengeister, die um Mitternacht in Kirchen oder auf einsamen Waldwiesen ihre Zusammenkünfte abhielten.
Nebst den Wesen aus dem Reich der Schatten waren es übel gesinnte Menschen, die andere mit Krankheiten belegten. Diese Vorstellungen hielten sich in der Umgangssprache. Ohne sich über die Herkunft von Wortwendungen Gedanken zu machen, sprechen wir von durchbohrenden, verachtenden, verweisenden, hypnotisierenden oder tötenden Blicken. Bestimmte Menschen haben stechende und eisige, andere warmherzige Augen. In diesen Redewendungen manifestiert sich der Glaube an den Bösen, wie auch an den Guten Blick. Entsprechend der verschwindend kleinen Menge des Guten, das sich in den Menschen fand, spielte der Gute Blick im Volksglauben eine untergeordnete Rolle. Einen Bösen Blick hatten jene Menschen, deren Seelen durch Neid, Zorn, Eifersucht und ähnliche negative Eigenschaften belastet waren. Sie vergifteten die Körpersäfte der Mitmenschen mit ihrem Blutdunst, der über die Augen entwich und mit dem Blick übertragen wurde. Dementsprechend verglich das Volk den Bösen Blick mit vergifteten Pfeilen, die aus den Augen schossen, einen anderen Menschen trafen und ihm Krankheit und Tod brachten. Namentlich war es der Neid, der die mit dem Bösen Blick behafteten Menschen ihre Giftpfeile verschiessen liess, weshalb man an manchen Orten auch vom Neidischen Blick sprach. Der Böse Blick konnte angeboren sein oder sich angeeignet werden. Äussere Zeichen für den angeborenen Bösen Blick waren zum Beispiel zusammengewachsene oder buschige Augenbrauen, rote oder zitternde Augenlieder oder ungewöhnliche Augen. Hexen wurde der Böse Blick durch den Teufel verliehen. Unter den Berufsständen standen Prostituierte, alte Frauen, Hebammen, Ärzte und Gelehrte im Ruf, den Bösen Blick zu haben. Vermutlich gab es nur wenige Zauberfolgen, die nicht irgendwann in der Geschichte auf den Bösen Blick zurückgeführt wurden. Unter den Krankheiten waren es besonders Kopfweh, verdorbener Magen, Krämpfe, Ohnmachtsanfälle, Geschlechtskrankheiten und Impotenz, unter den chronischen Krankheiten tuberkulöse Haut- und Lymphknotenerkrankungen bei Kindern, Lähmungen, Schwindsucht, Herzfehler und geistige Umnachtung. Sogar der Tod wurde in vielen Fällen dem Bösen Blick zugeschrieben. Über zauberische Kräfte verfügten schliesslich auch die Hexen, die ihre Kunst vom Teufel erlernt hatten. Sie verursachten Krankheiten, indem sie ihre Opfer mit dem Bösen Blick belegten, mit giftigen Pfeilen auf sie schossen oder ihnen Zaubermittel verabreichten.
War alles Bitten und Beten vergebens, hatte die Krankheit mit Zulassung Gottes vom Menschen Besitz ergriffen. Krank wurde demnach, wer sein Leben nicht im Einklang mit den Gesetzen Gottes führte. In diesem Sinne war die Krankheit eine Prüfung, die den Kranken läuterte, indem sie ihm durch geduldig ertragenes Leiden die Aussöhnung mit Gott ermöglichte. Dazu begab er sich an Orte, an denen er dem Göttlichen besonders nahe und die Wiederherstellung des seelischen Gleichgewichts wahrscheinlicher war als anderswo. In diesen Vorstellungen war der Glaube begründet, dass die Wallfahrt zu heiligen Orten der Seele und dem Körper Heilung brachte. Die Gesundung der Seele war folglich die Voraussetzung für die Gesundung des Körpers.
Gegen die Mächte der Finsternis halfen nach altem Glauben sowohl magische Formeln und Riten als auch christliche Zeichen und Handlungen. Kaum überblickbar waren die magischen Mittel, mit denen Krankheiten vertrieben wurden. Sie konnten in Gebete (Segensgebete, Wortzauber), magische Handlungen, Gegenstände (Heilkräuter und Tiere mit magischer Wirkung), lebende Menschen (Blut, Harn, Speichel, Schweiss), Leichenteile (Totenzähne) und die Elemente Erde, Wasser und Feuer unterteilt werden. Als besonders wirksam galten die kirchlichen, beziehungsweise die magisch-religiösen Heilmittel und Rituale. Dazu gehörten der Reliquienkult, die Krankheitsheiligen, Wallfahrten, kirchliche Gebete (wie zum Beispiel Exorzismen), Krankensegen und geweihte oder an heiligen Dingen anberührte Gegenstände. Die Gebete, Handlungen und Gegenstände hatten den Zweck, auf einer anderen Bewusstseinsebene den Mächten des Bösen entgegenzutreten.
In unserer Sprache haben sich diese Vorstellungen bis heute erhalten. Der stechende Schmerz im Kreuz heisst Hexenschuss, der Mensch wird vom Schlag getroffen, und seinen Zähnen setzen Zahnteufel zu. Wenn er erkältet ist, hat er eine Kröte im Hals und die schmerzenden Verwachsungen im Finger heissen Fingerwurm. Der Mensch wird auch nicht einfach krank, sondern die Krankheit packt ihn und wirft ihn ins Bett.
Autor: Bär-Vetsch Walter, Aus einer anderen Welt, S. 551 ff.; Lussi Kurt, homepage www.kurtlussi.ch, 21. Juli 2016.
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