Register der Volksfrömmigkeit
Ungetauftes Kind
Wenn ein Kind bei der Geburt starb oder tot zur Welt kam, konnte es, da die Seele den Körper verlassen hatte, nach der Ritualordnung nicht getauft werden. Damit aber erfolgte auch keine Bestattung mit Grabstätte in der geweihten Erde eines Gemeindefriedhofs, da diese nur für christlich Getaufte reserviert war. Ebenfalls sehr schwierig war die Situation bezogen auf die konventionalisierten Jenseitsvorstellungen, da eine visio dei (Gottesschau-Erleuchtung) im Himmel wegen des entbehrten Sakraments unmöglich erschien. Andererseits kam ein Aufenthalt in der Hölle oder im Fegfeuer nicht in Betracht, weil das Kind nach aller Gewissheit niemals Sünden hatte begehen können. Ungetaufte Kinder waren also vom Himmelreich ausgeschlossen, wurden nicht auf dem Friedhof (geweihte Erde) beerdigt und konnten deshalb nicht in den Himmel kommen. Bei einigen Friedhöfen war an der äussersten Ecke der Friedhofsmauer eine kleine Eisentüre angebracht, die in einen Schacht führte, in den die Leichen der ungetauften Kinder hinabgelassen wurden (Totälechli).
Die ungetauften Verstorbenen kamen an einen Ort, wo sie die Herrlichkeit Gottes nicht ersehnen konnten. Kinder, die ohne Taufe starben, kamen an einen Ort in der Ewigkeit, wo weder Freud noch Leid war und hiessen ungefreute Kinder. Das Volk nannte die ungetauften verstorbenen Kinder (vor der Taufe verstorbene Kinder) auch unschuldige Kinder.
Eine theologisch bestimmte Antwort auf die Frage nach dem Verbleib dieser tauflosen Kinderseelen war der Limbus puerorum. Mit Limbus puerorum benannte man, begrifflich analog zum Limbus patrorum, dem Jenseitsort der Propheten und Kirchenväter des Alten Testaments, den Aufenthaltsort der Kinderseelen ausserhalb des Fegfeuers und der Hölle. Eine Jenseitssphäre ohne Strafe und Reinigung also, aber auch ohne eigentliche Gnade, ohne Anschauung Gottes. Der Limbus war abgegrenzt von der Hölle, aber doch ein Teil der Unterwelt, nicht des ewigen Himmelreichs. Die deutsche Übersetzung mit Vorhölle verriet, dass für die Hinterbliebenen dort ein ewiger Aufenthalt keine akzeptable Vorstellung war.
Dämonologische Sagen erzählten, dass sich diese Kinder einem dämonischen, geisterhaft umherwirrenden Wilden Heer bzw. einer Wilden Jagd anschliessen mussten. Weitere historische Erzählmotive behandelten sie als Irrlichter. Allen diesen Motiven gemeinsam war, dass die ungetauften Kinderseelen als geisterhaft und immateriell, als blosses Heulen und Wimmern oder auch als flackernde Lichtpunkte umherirrend, unruhig, als ortslos, als nirgendwohin gehörend beschrieben wurden und an bestimmten Terminen sich den Lebenden wahrnehmbar machten, augenscheinlich, um nachträglich die Taufe zu erhalten. Besprengte sie jemand mit Weihwasser oder gabt ihnen auch nur einen Namen, hörte ihre Irrsal in der Erzählung auf.
Andere, weit schlimmere Sagen suggerierten, dass die ohne sakramentale Versorgung und in ungeweihter Erde begrabenen Kinder nicht vor dem realen Zugriff des Teufels geschützt waren, und dessen Handlanger die kleinen Körper raubten, um aus ihrem Fett zauberhafte Substanzen herzustellen. Eine solche soziale Situation war für Eltern, die um das Kursieren solcher Schauergerüchte wussten, nicht erträglich.
Einen Ausweg hin zur Ruhe bot die Erweckungstaufe. Auch die Begriffe Taufmirakel oder Kinderzeichnen wurden zuweilen dafür verwendet: Man brachte das Kind an eine Sakralstätte und richtete Gebete an die dort kultmässig verorteten Heiligen zur Vermittlung eines wunderbaren göttlichen Eingreifens, um zumindest eine kurzanhaltende, taufnotwendige Wiedererweckung des Lebens hervorzurufen. Wenn das eigentlich tote Kind dann zeichnete, wenn also der Körper Zeichen gab, d. h. wenn etwa in irgendeiner Weise Farbveränderungen der Haut oder Bewegungen oder Blutfluss sichtbar wurden, führte der Priester eine Nottaufe (Jähtaufe) aus. Wenn danach das Wiedereintreten des Todes gemeinschaftlich festgestellt worden war, konnte der Kindkörper dann in geweihter Erde begraben werden. Oft suchten Eltern, gegebenenfalls Verwandte und/oder die Hebamme, Wallfahrtsorte auf, um dort eine taufnotwendige Erweckung zu erreichen und das Kind auf dem dortigen Friedhof dann zu begraben. Diese Verfahren waren populär konventionalisiert, nicht aber durch Kirchenrecht sanktioniert.
Autor: Bär-Vetsch Walter, Aus einer anderen Welt, S. 588 f. Literatur: Zihlmann Josef, Volkserzählungen und Bräuche, S. 416.
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