Register der Volksfrömmigkeit
Es
Die Menschen erlebten nach Eduard Renner eine Welt, die vom Es (der Summe alles Bedrohlichen) und vom Frevel (der tödlich gefährlichen Nichtbeachtung von Brauchtum und Herkommen) beherrscht wurde. Der Lebensbereich des Menschen war der Ring. Er wurde durch den Bann gegen das bedrohliche Es gesichert. Verschiedene Gesten (Besitzergreifen, Gemeinschafts- und Truggesten) schützten diesen Lebensbereich (den Ring). Dazu gehörten auch Signaturen und Kunstwerke.
Das magische Weltbild fasste Eduard Renner (1891 – 1952) in seinem Buch «Goldener Ring über Uri» in die Begriffe vom Es, Ring und Frevel: Der magisch erlebende Mensch stehe als Erhalter seiner Welt im Ring (dem Sinnbild der Geborgenheit), gefährdet vom Es (der Summe alles Bedrohlichen, der Härte und Macht der Umwelt und ihrer Kräfte). Die Gefahr sei solange gebannt (durch Gesten des Trugs, der Besitznahme und der Zeichnung), als kein Frevel begangen werde. Renner verstand die Magie (Ausübung übernatürlicher Kräfte) als das urtümlichste Erleben und Denken des Menschen, die bis in die Steinzeit zurückreiche; sie kenne in ihrer reinen Form weder Götter noch Dämonen, sondern nur die unmittelbar empfundene Natur, den Menschen und seine Gemeinschaft. Dagegen sei die Welt des Animismus (Glaube an die Allbeseeltheit), die Renner als eine spätere Entwicklung der handwerklich und technisch ausgerichteten Talschaften ansah, als eine Art getrübter Magie, erfüllt von Göttern und Dämonen, Hexen und vermenschlichten Kräften. Die zu Kult und Zauber weiterentwickelten Gesten (etwa in der Fasnacht mit Maskenwesen, Feuer- und Lärmbräuchen) dienten nicht mehr dem Bann der Gefahr, sondern der Veränderung der Umwelt und der Beherrschung des Transzendenten.
Welche Kraft steckte nun hinter dem, was den ständigen Wandel verursachte? Renner bezeichnete diese Kraft als Es und meinte dazu: «Zum Gotte wie zum Teufel fehlt ihm die Persönlichkeit. Es ist an sich eine Summe, eine Summe der Eigenschaften, die an keinem festen Kern zur Ruhe kommen, ferner eine Summe der Wirkungen und, um den Widerspruch voll zu machen, ein Ort und eine Zeit» (Renner Eduard, S. 148). Das Es hat noch keine feste, bestimmte Form. Es nimmt keine konkrete Gestalt an. Es waren unsichtbare und unbekannte Kräfte oder Wesen (Renner Eduard, S. 162). Dieses Numinose, von Renner als Es bezeichnet, nimmt aber nie Gestalt an. «Im Es staut sich alles Unsichere, Unerfasste und Unsichtbare ... An sich weder gut noch böse, bleibt es unheimlich, schillernd und ein Nachtbereich am lichten Tag» (Renner Eduard, S. 149). «Äs riäft, äs winkt» und es kündet auch vom ständigen Wandel. Den Älplern nimmt es das Vieh, wenn sie etwa den Betruf unterlassen. Es zerstört ihnen die Alp, wenn sie mit den Gütern nicht sorgsam umgehen oder es verwandelt sich in ein grausiges Ungeheuer, wenn man parteiisch ist. Mit dem Es muss man achtsam umgehen. Wer «ug’waahrig» ist, bringt sich in Gefahr.
Doch es waren nicht unfassbare Dämonen, die Ding und Wellt immer wieder tückisch veränderten. Dies zu glauben, verbot dem strenggläubigen Urner die katholische Kirche. Es war ein namen- und formloses Es, worin sich all dieses Unsichere und Unfassbare verdichtete. Frevelte ein Mensch, indem er Brauch und Ordnung verletzte, gewann dieses Es Macht über ihn. Nur indem er die Dinge so nahm, wie sie waren, sie sorgfältig bewahrte, nicht veränderte und sich streng an Herkommen und Brauchtum hielt, konnte er der Haltlosigkeit seiner Umwelt Einhalt gebieten. Um dies zu erreichen, musste er selbst Haltung bewahren, sich nichts anmerken lassen – im viel gerühmten urnerischen «Nyt derglychä tüä» verharren. Zu Hilfe kam ihm dabei der Bann, der im Gegensatz zur Zauberei ausdrücklich erlaubt, ja geradezu geboten war. Nur indem der Mensch um sich einen Bannkreis, einen Ring, zog, konnte er diese unstete Welt festigen.
Autor: Bär-Vetsch Walter, Aus einer anderen Welt, S. 163 f. Literatur: Renner Eduard, Goldener Ring, S. 148 ff.
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