Register der Volksfrömmigkeit
Beten
Der Katechismus verglich das Beten mit dem Atemholen für den Leib: «Wir wollen täglich beten, besonders am Morgen und am Abend, vor und nach dem Essen, in Versuchungen, in allen Nöten und Anliegen, und so oft die Kirche durch ein Glockenzeichen zum Gebete mahnt.»
Das Tischgebet bildete gewissermassen das Rückgrat dieser Forderung. In einer Mischung von Schriftsprache und Mundart wichen die Texte von Haus zu Haus nur geringfügig voneinander ab. Die Gebete wurden vor und nach den drei Hauptmahlzeiten sitzend verrichtet und waren bei offenen Türen und Fenstern oft bis auf die Strassen und Gassen hinaus zu hören. Man konnte es sich nicht vorstellen, auf das Tischgebet zu verzichten.
Beim Morgen- und Abendgebet nahmen sich die Betenden mehr gestalterische Freiheiten als bei den Tischgebeten. Insbesondere das mit dem Dankgebet nach dem Abendessen verbundene Abendgebet weiteten die Familien zu eigentlichen Andachten aus. Dem Rosenkranz folgten mehrere Vaterunser mit Fürbitten und das Glaubensbekenntnis. Zum Abendgebet gehörten lange Zeit auch noch ältere Gebete.
Das Samstagabend-Gebet galt dem Gedenken an die Verstorbenen. Auf dem Ofen oder auf dem Tisch wurde den Armen Seelen eine Kerze angezündet. Die Eltern und die schulpflichtigen Kinder knieten während der Andacht, ältere Familienmitglieder durften sich setzen. Vereinzelt beteten die Eltern mit ausgebreiteten Armen.
Wenn eine Familie von Krankheit und Todesfällen heimgesucht wurde oder in andern Nöten steckte, intensivierte sich ihr Gebetsleben. Zusammen oder für sich allein wandte man sich an die bewährten Heiligen, z. B. an den heiligen Antonius, an den heiligen Josef und die heilige Barbara, an die Namenspatrone und die Vierzehn Nothelfer sowie an den heiligen Thaddäus, den Helfer in besonders schwierigen Situationen.
Bei einem Unwetter mahnte die Wetterglocke die Bauern zum Gebet. Nachts verliess man dafür die Schlafkammer zum gemeinsamen Gebet in der Stube. Auch wenn der Vater oder die älteren Brüder einer besonders gefährlichen Arbeit auf den Alpen, in den Wäldern oder am Wasser nachgingen, wurde zu Hause für sie gebetet. Die Älpler durften während der Sömmerung ihres Viehs auf regelmässige Gebetshilfe zählen. Ging man an einem Feldkreuz oder Helgenstöcklein vorbei, nahm man den Hut vom Kopf und verrichtete ein Stossgebet.
Vereinzelt kam dem Beten noch ein erzieherisches Moment zu. Kinder mussten ihren Ungehorsam in der Andacht vom Samstagabend sühnen, indem sie eine bestimmte Zeit lang in einer Ecke knien mussten. Selbst Halbwüchsige, die mit der Hausordnung in Konflikt geraten waren, wurden angewiesen, fünf Vaterunser oder ein Geheimnis des Rosenkranzes zu beten. In den kinderreichen Familien übte das Beten allein schon durch den festen Platz, den es im Tagesablauf einnahm, einen gewissen Einfluss auf die Disziplin aus.
Zum brauchtümlichen Beten ausserhalb der Familie gehörte das Beten für Schwerkranke und Sterbende. Es gab überall in den Pfarreien fromme Frauen, die als Beterinnen bekannt waren. Eine grosse Bedeutung nahm das Beten für die Verstorbenen ein. Die Frauen, die während der Totenwache am Sterbebett beteten, waren häufig identisch mit jenen, die das Volk «Dryssigschtbätteri» nannte. Die Angehörigen eines Verstorbenen beauftragten sie, gegen eine Gabe von der Beerdigung bis zum Dreissigsten täglich zur Messe zu gehen, dort die Rodelkerze anzuzünden und für den Verstorbenen zu beten. Oft besorgte eine solche Frau auch das Ankleiden der Toten und hielt die Totenwache.
Autor: Bär-Vetsch Walter, Kraft aus einer andern Welt, S. 87 ff. Literatur: Senti Alois, Das brauchtümliche Beten, S. 67 ff. Zihlmann Josef, Volkserzählungen und Bräuche, S. 78 f.
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NACHWEISE
«Auf den Alpen soll man entweder gleich von Anfang an und fleissig oder dann gar nicht beten und zu beten rufen. Ein Hirt der Rinderhirte Fiseten betete einst den ganzen Sommer hindurch kein Wort, tat kein christliches Zeichen, und doch hatte er keinen einzigen Unfall zu beklagen. Am letzten Abend vor der Abfahrt sagte er zu den Knechten, sie wollten noch einen Rosenkranz beten zum Dank für alles Glück des verwichenen Sommers.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 740.
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«Bis in die neueste Zeit, so zum Beispiel in den neunziger Jahren des letztverflossenen Jahrhunderts, war es Brauch auf Ennetmärcht, dass die Leute, besonders am Abend, zu den Kalköfen, wo gerade ein Kalk gebrannt wurde, zusammen kamen und beteten. Auch Leute, die zufällig da vorbeigingen, blieben stehen und beteten etwa „Fyfi“. Man hatte dabei den Glauben, dass in jedem brennenden Kalk eine Arme Seele leide, die erlöst werde, wenn man ihr mit Gebet zu Hilfe komme. Die Ofenglut dachte man sich als Fegfeuer.»
«Das hend-si alligs gseit, i jedem Chohlähüffä und i jedem Chalch, wo si brennet, tieg än Armi Seel lydä, und friähner hend-si susch flyssig b'bätet, wennd si ä Chohl uder ä Chalch b'brennt hend.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sagen 1087, 1090.
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«Früher haben sie auch bei uns zu gewissen Zeiten auf den Anhöhen Feuer gemacht wie jetzt am 1. August, und zwar so, dass man von einem Feuer zum andern gesehen hat. Dabei haben sie auch gebetet, und es habe sich oft dabei etwas merken lassen, haben die Alten gesagt. Jedenfalls haben sich Arme Seelen dem Gibätt nahg'ha.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 1087.
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«Sofort ging der Bauer mit ihm bis nach Altdorf zum Kumisari. Der forderte den Bub auf, er solle niederknien und beten. Das tat er, und der Kumisari betete mit ihm.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 1574.
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«Da liess sich der um das ewige und zeitliche Wohl seiner Gemeinde besorgte Pfarrer bei seiner Haushälterin verlauten, man sollte um Regen beten.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 167 a.
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«Es war einmal eine Frau, die auf Bestellung der Leute bei den Gräbern der Verstorbenen auf dem Friedhof Gebete verrichtete und im Rufe der Frömmigkeit stand.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 124.
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«Sie wussten wohl, dass diese Gegend durch Räuber gefährdet war, nahmen deshalb ihr Bätti zur Hand und beteten einen Psalter für die Armen Seelen.»
«... denn der brave Säumer unterliess es nie, die verlassenen Armen Seelen zu trösten und für sie zu beten, wenn er am ehemaligen Friedhof bei der alten Kirche vorbeiging.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sagen 1033, 1036.
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«So isch es mängi Nacht chu, bis ich a'gfangä ha, amm-änä-n-Abed äs Gibätli z'bättä fir das, düe hets pesseret.»
«Es hatte zwar Angst, aber weil es betete, geschah ihm nichts Böses.»
«Die Mutter fing an zu beten, und bald wurde ich besser. Sie meinte nun, genug gebetet zu haben, und hörte damit auf. Aber woll! sogleich sei ich in den alten Zustand zurückgefallen, und die Mutter musste wieder beten.»
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Müller Josef, Sagen aus Uri 267; Müller Josef, Sagen aus Uri, Sagen 827 2, 1041
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«... Aber Überfluss und Müssiggang zeugten den Übermut. Die Älpler glaubten, ohne den Schutz und Segen Gottes leben zu können; weder um ihn demütig um seinen Beistand zu bitten, noch um ihm zu danken für seine reichen Wohltaten, hoben sie ihr Herz zum allmächtigen Gott. Ohne zu beten zu rufen, beschlossen sie ihr Tagewerk, ohne die gute Meinung begannen sie es.»
«Gar nicht selten, besonders wenn sie nicht zu beten gerufen hatten, ereignete es sich in den Alpen des Isentals, dass über Nacht das Vieh von unsichtbaren, unbekannten Kräften oder Wesen entführt wurde und mehrere Tage nicht mehr zum Vorschein kam.»
...“62
«Ein Senn zu Oberalp im Schächental, der gewöhnlich kein Abendgebet verrichtete.», ...“63
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 105 a, 925 4, 942 2.
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«Er hielt auf Zucht und Ordnung und betete jeden Tag mit seinem Gehilfen.»
«Er betete morgens und abends, und kein Fluchwort und kein Schwur entging seinem Munde.»
« Und da häig-mes all Abed gheert bättä, ja, i dem Hüsäli innä, und vill Lytt syget ga loosä.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 975, 976, 1002.
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«Es stellte sich heraus, dass sie ganz verkehrt gebetet hat; das Vater Unser zB. fing sie vom Schlusse an und hörte mit dem Anfang auf. ... Bei der neuen Kirche in Andermatt betete sie: „Nägeli, Nägeli auf und ab, nimms Teufel aus dem Grab!“ ... Es ward ferner bewiesen, dass Schneidergret schon vielen Schaden angerichtet habe.»
Müller Josef, Sagen aus Uri, Sage 122 b.
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VOKLSGLAUBEN
DAS NACHSCHLAGEWERK
Kraft aus einer anderen Welt
Zeichen und Handlungen
des Volksglaubens und der Volksfrömmigkeit
in Uri
Walter Bär-Vetsch, Altdorf
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