«Das Urner Dorf» von Karl Iten
Meien
«Du bist Grenze und Übergang; du liegst in jenem unbestimmten Zwischenreich, das halb noch dem vom Menschen bewohnten Gebiete, halb schon jener unberührten Region angehört, in die vielleicht der Jäger, der Wilderer, der Hirte gelegentlich vordringt, in der das Unbekannte, Unnennbare bewegungslos starrt und lauert, in der die büssenden Frevler ruhelos wandeln und die Seelen der Unerlösten seit Jahrhunderten auf ihre Stunde warten. Wohl braust an schönen Sommertagen ein mächtiger, unaufhaltsamer Touristenverkehr über die breite Passstrasse hoch am Hang; unten aber, in der Tiefe, liegt ein vergessenes Tal, eine versunkene Insel der Stille. Mit Wehmut entsinne ich mich des einfachen Lebens deiner Hirten. Glückseliger Sommer, da ich ab und zu in ihre niedere Hütte trat! Immer reichte mir eine braune Hand als Zeichen des Willkomms eine Steinguttasse voll frischer, schäumender Milch; mit grosser Sorgfalt musste ich das übervolle Geschirr zum Munde führen, damit der kostbare Inhalt nicht über den Rand hinaus schwappte. Wenn die Nacht hereinbrach, trat der Senn vor die Hütte hinaus und rief den Alpsegen, uralte Worte, in einem noch nie gehörten und doch so wohlbekannten Tonfall, archaische Klänge, die mir Erinnerungen weckten an die dunklen Ursprünge unseres Menschseins. – Als ich dich heute besuchte ging eben ein Sommergewitter über dir nieder. Und jetzt steht ein blasser Regenbogen über den aufgetürmten Zacken der Fünffingerstöcke, versöhnliches Zeichen des Friedens über der uralten, ewig jungen Schöpfung. Dunkel und regennass glänzen die Steine am Wegrand. Lau und ruhig rauscht der milde Morgenregen auf die dampfende Erde. Und die Uhr an deinem Kirchlein zeigt eine stehengebliebene Zeit an.»
Iten Karl; Eine beschauliche Reise durch den Kanton Uri festgehalten in einer Folge von Linolschnitten und Texten von Karl Iten; Altdorf 1968.
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Wassen
«Wassen – mit deinem Namen tauchen mir längst verloren geglaubte Erinnerungsbilder an frühe Geographiestunden in muffigen Schulzimmern auf. Ich sehe mich wieder in tintenbeklecksten, hölzernen Schulbänken sitzen, und ich höre im Geiste nochmals das trocken quietschende Geräusch der Kreide auf der dunkelgrauen Wandtafel, mit der uns der Lehrer die Linienführung der Gotthardbahn mit ihren Kehrtunnels aufzeichnete. Man sehe dein Kirchlein dreimal, dozierte er uns vor, zuerst von unten, dann von gleicher Höhe und, entschwindend, noch einmal hoch vom Hang herab. Später habe ich erlebt, wie farblos die genaueste Schilderung bleiben muss vor dem lebendigen, ureigenen, persönlichen Erlebnis, das den vibrierenden Zauber einer einmaligen Stimmung wie in einem Spiegel einfängt und unauslöschlich in die Seele einbrennt. Denn als ich dir begegnete, fand ich hier alles genau so, wie man es mir geschildert hatte, und doch alles völlig anders: Keiner hatte mir gesprochen von den mit halbrunden Holzschindeln verkleideten Hauswänden, keiner von den Geranienstöcken vor den sonnverbrannten Holzfassaden, keiner vom Heiligen mit dem Bären auf der toskanischen Säule des Brunnenstockes! – Eindrucksvoll ist schon die Zufahrt zu dir hinauf: Die Strasse steigt, unterbrochen durch eine spitze Kehre, auf die Anhöhe, auf der dein kreideweisses Kirchlein thront. In gewaltigen Wirbeln kreist der Föhn um den Kirchhügel. Sein Feuerhauch lässt die dünnen Wasserstrahlen, die wie silberne Schnüre aus vier Röhren in das achteckige Becken des Dorfbrunnens plätschern, zeitweise aussetzen und in winzigen Tropfen in der knisternden Luft zerstieben. Wie kühl und nördlich mutest du mich an, trotz des südlich-feurigen Kobalts im winddurchbrausten Herbsthimmel!»
Iten Karl; Eine beschauliche Reise durch den Kanton Uri festgehalten in einer Folge von Linolschnitten und Texten von Karl Iten; Altdorf 1968.
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GEMEINDEN
Karl Iten verfasste viele Bücher und Schriften über Uri. So
erschien 1968 eine beschauliche Reise durch den Kanton Uri festgehalten in einer Folge von Linolschnitten und Texten. Darin hat er alle Urner Dörfer aus seiner Sicht porträtiert.
> Portrait Karl Iten
(1931-2001)
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